von Daniela Neuwirth
„Die Gerechtigkeit wird in der griechischen Mythologie von Dike, eine der Horen, dargestellt. Ihre Eltern sind Zeus und Themis, die Schwestern Eunomia (gute Ordnung) und Eirene (Frieden). Ihre Nähe zu Zeus erlaubt ihr, eine von ihr entdeckte Kränkung des Rechts anzuzeigen und Bestrafung zu fordern. Sie verlässt im bronzenen Zeitalter als letzte verbliebene göttliche Macht das verderbte Menschengeschlecht und flieht in den Himmel, wo sie zum Sternbild der Jungfrau wird und entspricht Astraea.“
Lilly legt das Buch zur Seite. “Also selbst (Staats-)Anwälte haben eine eigene Göttin.” Lilly ist fasziniert vom Olymp.
Bei Astraea denkt sie an ´Ad Astra´ und einen ihrer Lieblingsschauspieler Brad Pitt auf der Reise zum Mond, was schon eine gut ausgebaute Route ist, in einer Sonderdelegation bis zum Mars und von dort alleine – wer Brads Rollen kennt, weiß, er geht auch immer irgendwo über eine Leiche seinen Weg – weiter monatelang isoliert bis zum Neptun, wo er seinen vor 20 Jahren zurückgebliebenen Vater zwar findet, aber dann doch endgültig zurück lässt, nicht ohne diverse kriminelle Machenschaften während der Reise aufzudecken.
Schließlich kehrt er doch auf unsere schöne, blaue – vom Weltall aus gesehen götter- und olymphafte – Erde voll ameisenhafter Bewegung menschlicher Lebendigkeit und unter den anderen 7,8 Milliarden Menschen, zu seiner Frau zurück, endlich befreit und in der Lage, die Beziehung und menschliche Herzensbindung zu genießen. „Ist eine lange Reise, bis man sich frei fühlt”, seufzt Lilly ins Dunkel der Nacht über Sylt und überlegt, wie lange es ohne die wärmenden Sonnenstrahlen dauern würde, bis die Erde den anderen leblosen, staubigen Planeten gleich wäre. Der heranwachsende Junge kommt aus seinem Zimmer und trägt eine der drei großblättrigen Grünpflanzen in sein Reich.
„Da sucht man den richtigen Vater, hat ihn endlich, dann heißt es im Schnellverfahren schon wieder loslassen.“ Inzwischen erkennt sie nicht nur die Sternbilder am Sylter Himmel über ihrem Fenster zur Nordsee, sondern auch den Schlafrhythmus der Menschen, die sich in den noch beleuchteten Räumen im Hochhaus gegenüber befinden. Manche Fenster sind immer dunkel.
Die Besitzer der Eigentumswohnungen befinden sich wohl nicht fix auf der Insel. Manche treten bevor sie das Licht abdrehen auf den Balkon mit dem Blick an Lillys und anderen hellen Fenstern übers ruhige Wattenmeer Richtung Küsten vorm deutschen und dänischen Festland.
„Vielleicht sehen sie ja Nemesis, die Göttin des ‘gerechten Zorns’, des Gleichmaßes und der ausgleichenden Gerechtigkeit der griechischen Mythologie, eine Tochter der Nyx (Nacht) durch die Finsternis schweben. Diese soll einen Zweig vom Apfelbaum in der Hand halten und wird von einem Greif begleitet. Nemesis verfolgt mit Dike Verbrecher, mehr als Richterin als Rächerin. Zumindest über die Frauenquote brauchte man sich am Olymp nicht zu streiten – es gab ebenso viele Göttinnen, wie Götter.
© Daniela Neuwirth 2020-11-02