von Janina Sattler
Der Avatar rettet mich durch die nächsten Wochen. Er ist die perfekte Ablenkung von meinem tristen, isolierten Alltag und auf diese Art und Weise macht die Schule manchmal sogar Spaß. Ich kann mein Handy unbemerkt benutzen und mit den anderen chatten, ohne erwischt zu werden. Luis dagegen fängt sich laufend Ärger ein. Von meinen Mitschülern werde ich von Klassenzimmer zu Klassenzimmer getragen. Auf den Fluren beobachte ich grinsend, wie die jüngeren Schüler den Avatar begaffen und verändere ständig die Augen, woraufhin sie ihre Freunde anstupsen und aufgeregt auf mich deuten. Manchmal schwänzen Luis und ich den Unterricht, um im Oberstufenraum Fortnite zu zocken. Die Lehrer versuchen, mich einzubinden, wo es nur geht, was mich dazu zwingt, im Unterricht aufzupassen. Sogar im Sportunterricht findet Herr Bleichner einen Weg, mit mir Noten zu machen. Der Avatar wird auf einem Kasten abgestellt und Herr Bleichner trägt mir auf, die Technik meiner Mitschüler im Hochsprung zu analysieren. Das gibt glatte fünfzehn Punkte. Den Rest der Stunde verbringe ich auf der Bank und sehe den anderen beim Fußballspielen zu. »Hey Dan!« Ich lasse den Avatar nach rechts schwenken. »Falsche Seite«, erklingt eine verlegene Stimme. »Ups.« Ich hämmere auf den anderen Pfeil und mein Herz macht einen Hüpfer, als Fines gemusterte Sportleggins in mein Blickfeld kommt. Gut, dass der Avatar nicht rot werden kann. Hastig bewege ich den Kopf nach oben und begegne dem schüchternen Lächeln von Fine. »Glückwunsch«, sage ich. »Dreizehn Punkte sind mega. Der Bleichner war wieder krass streng.« »Danke. Wie geht’s dir?« »Ich sterbe vor Langeweile.« »Bist du im Krankenhaus?« »Nö, zu Hause. Ich darf nur wegen der Infektionsgefahr nicht unter Leute. Der nächste Chemoblock ist erst in zehn Tagen.« »Wir vermissen dich hier. Ich meine … ich vermisse dich.« Sie spricht sehr leise, doch ich verstehe sie trotzdem. Mich überkommt ein Anflug von schlechtem Gewissen. »Tut mir echt leid, dass ich dich damals versetzt habe. Da kam spontan diese dumme Untersuchung und ich hab einfach vergessen, dir abzusagen.« »Ich mach dir doch keinen Vorwurf.« Fine sieht zu Boden. »Sag mal, hast du vielleicht Lust, mal zu mir zu kommen?«, frage ich hastig, bevor ich den Mut verliere. »Wir könnten einen Film schauen. Oder ist die Glatze für dich ein K.O.-Kriterium?« Ich lasse den Avatar die nachdenklichen Augen anzeigen. Das Bild auf dem iPad ist klar genug, um zu erkennen, dass Fine errötet. »Das macht mir gar nichts aus. Aber geht das denn mit der Infektionsgefahr?« »Ja, das geht klar. Luis war auch schon da. Wie wäre es mit Samstag?« Ich wechsle die Augen auf glücklich. »Samstag klingt super.« Fine grinst verlegen in die Kamera. »Oh, ich sollte mal wieder mitmachen. Der Bleichner schaut ganz böse zu mir rüber. Bis dann!« Ich drücke auf den Knöpfen des iPads herum und verbringe den Rest der Stunde damit, Fine im Fokus zu halten. Frau Haberl wäre sicher sehr zufrieden, wenn sie mich jetzt sehen könnte. Irgendwann werde ich ihr gestehen, dass die Perspektive, die sie mir dank des Danitars gegeben hat, mich zu Höchstleistungen motiviert. Nach der Sportstunde mache ich mich mit einem deutlich milderen Seufzer als sonst an meine Mathehausaufgabe zur Ableitung verketteter Funktionen. Kotz.
© Janina Sattler 2023-09-09