Ein ganz normaler Tag

Peter Stangl

von Peter Stangl

Story
Wien 2049

Deryck saß vor seinem Computer im Büro und versuchte, einen Fehler in der Applikation seines Kunden zu finden. „Das darf doch nicht wahr sein“, seufzte er. Seit Tagen saß er an diesem Fehler, die Datenübertragung auf den amerikanischen Server funktionierte nicht mehr, und deshalb fehlten einigen Kunden wichtige Daten. Es machte ihn wahnsinnig, und seine Sturheit, jedes Problem zu lösen, trieb ihn wieder einmal zu Überstunden. Aus seinen Kopfhörern dröhnte ein altes Album von „The Architects“ – eine britische Band, die mit ihrer sozialkritischen Musik genau seinen Nerv traf. Sein Kollege Hans erhob sich von seinem Platz und warf ihm einen Blick zu. Deryck unterdrückte ein Augenrollen. Er konnte Hans nicht ausstehen und ahnte schon, dass dieser gleich irgendetwas von ihm wollte. „Deryck, hast du den Fehler immer noch nicht gelöst? Ich hätte dafür sicher nur zwei Stunden gebraucht, aber Anweisung von oben: Unser Ami muss das lösen“, spottete er. „Dieser Typ“, dachte Deryck. Jeden Tag kam er im selben Outfit: Hemd, Krawatte, Jeans und Sakko. Dazu diese brünette Föhnfrisur, die Hans als „Bro Flow“ bezeichnete – angeblich der letzte Schrei. Er schüttelte unmerklich den Kopf. Deryck hielt eigentlich nichts von Klischees, aber Hans schien entschlossen, jedes einzelne Vorurteil über Deutsche zu bestätigen. Dabei war er ein ganz normaler Softwareentwickler, nicht besser und nicht schlechter als die anderen. Aber Hans hielt sich für etwas Besseres, und das konnte Deryck nicht ausstehen. „Ich mach dann mal Feierabend!“, sagte Hans. „Ja, klar, mach du nur. Ich hänge noch an dem Fehler hier“, antwortete Deryck. Nachdem Hans das Großraumbüro verlassen hatte, beschloss Deryck, sich einen Kaffee zu holen. Er ging den Flur entlang zur firmeneigenen Kaffeeküche. Die Wände waren gesäumt von Mitarbeiterfotos und dem Logo der „Necron IT GmbH“ – einem stilisierten Totenschädel. Deryck erinnerte sich noch gut an seine Anfangszeit hier. Er hatte die Arbeit gemocht, die Kollegen, das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Damals. Aber die Welt hatte sich verändert. Vor der Kaffeeküche lag das Büro von Tina, der HR-Chefin. Sie hatte ihn damals, direkt nach dem Studium, angeworben – in Los Angeles. Aber sie war schon weg, wie alle anderen aus dieser Etage. Er öffnete die Tür zur Küche, nahm eine Tasse aus dem Schrank und stellte sie unter den Auslauf der Maschine. „Nur noch auf ‚Cappuccino‘ drücken und …“, sagte er leise zu sich selbst. In diesem Moment begann das Mahlwerk mit ohrenbetäubendem Lärm zu arbeiten. Deryck zog unwillkürlich die Schultern hoch und drehte sich um. An der Wand hing ein großer Spiegel. Er musterte sein Spiegelbild: 1,80 Meter groß, schlank, brünettes Haar, grüne Augen. Auf seinem Arm prangte ein Tattoo – sein ganzer Stolz: eine detaillierte Darstellung des Sonnensystems. Er hatte die Schmerzen beim Stechen unterschätzt, Schmerzen waren etwas, das er normalerweise mied. Die Kaffeemaschine piepte. Fertig. Im selben Moment hörte er das Bling des Hauptaufzugs. Er spähte um die Ecke, sein Herzschlag beschleunigte sich. Im Aufzug standen mehrere Beamte der NFR – der Spezialeinheit der „Europäischen Allianz“ zur Bekämpfung von IT-Spionage. Sein Arbeitgeber hatte viele staatliche Aufträge. Deryck zählte eins und eins zusammen. „Shit“, flüsterte er. Er drehte sich um. Sein Blick fiel auf das Fenster der Kaffeeküche, das er vor Monaten manipuliert hatte. Er öffnete das Fenster und konnte mithilfe einer provisorischen Feuerleiter, die in eine Seitengasse führte, zu entkommen.

© Peter Stangl 2025-01-24

Genres
Science Fiction & Fantasy
Stimmung
Herausfordernd, Dunkel, Mysteriös, Reflective
Hashtags