Ein letzter Tanz

Christian Bär

von Christian Bär

Story

Seit den ersten Symptomen sind ständig Veränderungen im Gang. Es gibt regelmäßig körperliche Updates, die keiner braucht. ALS hat da einiges an unnötigen Neuerungen gebracht.

Da wäre das ständige Muskelzucken und Krämpfe. Mittlerweile überall, selbst in der Zunge. Auch bezaubernd sind stark vermehrter Speichelfluss und Spastiken. Äußerst förderlich für das Aussehen. Was aber von wirklich besonderer Güte war, war das Update mit dem pathologischen Lachen. Das bedeutet im Grundsatz eine unangemessene emotionale Reaktion. Ich lache, obwohl ich nicht lachen will.

Natürlich kann man diese Nebenkriegsschauplätze an Symptomen mit Medikamenten beschießen, was ich im Fall der Spastik, Krämpfe und Schmerzen durch die Einnahme von Muskelrelaxantien und Betäubungsmitteln in der Nacht, in Form von Cannabis-Spray, mache. Alle anderen Symptome werden für gewöhnlich mit Psychopharmaka beschossen. Die Nebenwirkungen dieser Medikamente machen zum Beispiel einen trockenen Mund. Ich für mich habe bis dato deren Einsatz abgelehnt, da ich fürchte, ich handle mir andere Probleme ein.

Meine Muskeln sind mittlerweile fast vollständig weg. Ich benötige ständige Hilfe beziehungsweise Beobachtung. Hilfsmittel erlauben mir, die Verluste etwas auszugleichen. Patientenlift, Hausautomatisierung, elektrischer Rollstuhl, Duschrollstuhl, Pflegebett, Roboterarm, Sprachcomputer, Augensteuerung, Hustenassistent und vieles mehr. Das wichtigste Hilfsmittel ist aber der hilfsbereite Mensch.

Im Bett muss ich gelagert werden, sogar die einzelnen Finger. Puls und Sauerstoffsättigung werden konstant überwacht und vor allem die Beatmung erfordert eine ständige Anwesenheit einer Person, die an meinem Wohlergehen aktives Interesse hat und im Notfall weiß, was zu tun ist. Wenn ich in der Maske erbrechen sollte oder mich verschlucke, bleibt nicht viel Zeit, um die Maske zu entfernen, ansonsten ersticke ich. Verschlucken und daran ersticken geht auch ohne Maske und kann spontan ins (Re)Animationsprogramm eingebaut werden. So einfach ist das. Ohne großen Zapfenstreich, ohne „Der Papa muss jetzt gehen“, ohne „Ich liebe Dich“, ohne „Der Wasserdruck der Heizung muss nach dem Entlüften kontrolliert werden“. Einfach weg… Und schon lässt die Heizleistung nach und keiner weiß warum. Ein Trauerspiel.

Trotz aller Hilfsmittel und großartigem Pflegepersonal, welches rund um die Uhr für mich da ist, ist nur ein Bruchteil vom alten Tanzbär geblieben. Bis vor drei Jahren hatten meine Frau und ich ein Ritual. Wir tanzten jeden Sonntagmorgen zusammen in der Küche. Ohne dass ich ein Bier getrunken hatte und egal wo der Haussegen rumhing. Ich kann mich nicht mehr an den letzten Tanz erinnern. Es muss ein Klammerblues gewesen sein, mehr war nicht mehr drin. Ich glaube wir beide wussten, dass es endlich ist, nicht jedoch, dass es der letzte gemeinsame Tanz unseres Lebens sein wird. Das bringt uns kein Hilfsmittel zurück, nur ein Wunder.

© Christian Bär 2020-10-15

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