Wenn ein Mensch stirbt, dann hinterlässt er ein Loch, so sagt man. Einen unsichtbaren und zu gleich unübersehbaren Abdruck dessen, was einmal dort gewesen war. Was geliebt, geschätzt, umarmt, in Gespräche verwickelt, gemocht wurde. Die Welt dreht sich für die Hinterbliebenen weiter, ein Tag jagt den anderen, alles geht seinen gewohnten Gang – bis auf diese Lücke, die bleibt.
Für Aria war es anders. Vielmehr verschwand alles, was bisher gewesen war, jeder Geruch, jedes ihr bekannte Gesicht, jede Erinnerung an ihr bisheriges Leben. Alles, was noch übrig blieb, war er. Der Gedanke an ihn war der Erste, der da war, wenn sie aufwachte, blieb bei ihr, wenn sie abends in den Schlaf glitt, begleitete sie durch jede Sekunde des Tages, haftete an ihr in jedem Zimmer, das sie betrat, wurde selbst von dem stärksten Regen nicht davon gewaschen. Überall, wo sie war, sah sie Emmanuel. Sein dichtes Haar, die grünen Augen, das verschmitzte Lächeln. Sein Kinn. Seine Lippen, die sie in den vergangenen Jahren unzählige Male geküsst hatte. Nie wieder küssen würde.
Aria beschleunigte den Wagen so vehement, dass die Geschwindigkeit sie in den Sitz drückte. Bedrohlich schnell wurden die anderen Autos im Rückspiegel kleiner, vor ihr machte ein roter Sportwagen die Überholspur für sie frei. Sie warf einen flüchtigen Blick auf den Tacho, rückte die Sonnenbrille auf ihrer Nase zurecht und ließ den Blick in die Ferne schweifen, dort, wo die Autobahn mit dem Horizont verschmolz. Es war warm für einen Tag Mitte April, zumindest bei ihr im Auto. Die Klimaanlage kämpfte gegen die Hitze an, die sich in den vergangenen Stunden im Wagen angestaut hatte. Bereits im Morgengrauen hatte sie sich auf den Weg gemacht, ihre Taschen im Kofferraum verstaut und die Route gen Norden eingeschlagen. Jetzt war es bereits früher Nachmittag, lange würde die Fahrt nicht mehr dauern. Sie atmete aus und presste die Luft durch ihre Lippen. Genau das hatte sie sich in den letzten Wochen gewünscht: Davonzukommen. Auszubrechen aus allem, was jetzt ihr Leben war. Irgendwas in ihr hatte gehofft, mit jedem Kilometer, den sie zurücklegte, einen Bruchteil ihrer Leichtigkeit zurückgewinnen zu können – doch der Stein auf ihrem Herzen war in den letzten Stunden genau gleich schwer gewesen, und der vorsichtige Enthusiasmus bei der Abreise war einer leisen Angst gewichten.
Sie wusste nicht, was sie erwartete. Schließlich war es erst wenige Tage her, dass sie in den Büroschubladen ihres Mannes den mysteriösen Mietvertrag gefunden hatte, gemeinsam mit einem Schlüsselbund, der jetzt neben ihr auf dem Beifahrersitz lag. Es hatte sie überrascht, dass Emmanuel ohne ihr Wissen eine Wohnung angemietet hatte, noch dazu in irgendeinem Kaff in der Eifel. Am liebsten hätten ihre Schwiegereltern die Wohnung einfach telefonisch gekündigt und von einer Spedition ausräumen lassen, aber Aria wusste, dass sie dorthin musste. Jeder noch so kleine Grund für eine Flucht war ihr gut genug. Kurzerhand hatte sie ein paar Sachen zusammengepackt und war, sobald es ging, losgefahren. Wollte sich wieder spüren. Sich Emmanuel nah fühlen. Aria setzte den Blinker, machte den Schulterblick und nahm die nächste Ausfahrt.
© Angelina Jungmann 2023-08-31