Es war ein Kreuz mit ihr (2)

Sonja M. Winkler

von Sonja M. Winkler

Story

Es kommt vor, dass ein Mensch meine Aufmerksamkeit aus irgendeinem Grund derart in Anspruch nimmt, dass ich mir Aussehen, Stimme und vor allem seine Bewegungen einpräge, so als ahnte ich, dass er mir später im Leben noch einmal begegnen würde.

Mein Sohn war im Kindergartenalter. Die Mandeloperation stand bevor. Ich sehe mich heute noch mit ihm in der Ambulanz sitzen, im alten AKH, in dem jetzt Universitätsinstitute untergebracht sind. Das Wartezimmer ist riesig. Eine Krankenschwester nimmt die Daten auf. Ich kann nicht sagen, weshalb sie mir im Gedächtnis blieb. Es war ihre äußere Erscheinung, ihre Körperlichkeit. Sie war groß und wuchtig, von kräftiger Statur, nicht zu übersehen. Ich verfolgte sie mit meinen Blicken. Ihre Bewegungen waren nicht geschmeidig. Sie trug Gesundheitsschuhe, die auf dem Linoleum quietschten. Ihr Bürstenhaarschnitt wirkte männlich. Sie war nicht mehr die Jüngste. Ihr Gesicht war zerfurcht. Es sah gequält aus.

In den 1980er-Jahren erschien eine Flut an Publikationen auf dem Gebiet der feministischen Linguistik. Ich las Luise F. Pusch und Senta Trömel-Plötz und interessierte mich für „Frauen- und Männersprache“. Ruth Aspöcks kritische Studie „Der ganze Zauber nennt sich Wissenschaft“ eröffnete mir ein neues Feld, das ich bepflügen wollte. Als junge Lektorin musste ich mich gegen männliche Kollegen behaupten. Emanzipatorisches Gedankengut, alles, was Frauen erstarken lässt, dafür trat ich ein. Es waren die Jahre, bevor Johanna Dohnal Frauenministerin wurde. Auf einer Enquete knüpfte ich Kontakte und entdeckte, dass es Therapieangebote für Alleinerziehende gab.

Im Herbst 1986 entschloss ich mich zu einer Gruppentherapie. Sie fand in den Räumlichkeiten der Erzdiözese Wien statt.

Ich erkannte sie sofort, die Krankenschwester vom AKH. Sie saß im Sesselkreis, eingehüllt in einen riesigen Oversize-Pullover. Die Hände hatte sie im Ärmel des jeweils anderen Armes vergraben, wie in einer Zwangsjacke. Lore, sagte sie in der Namensrunde. Sie machte mir Angst. Oft biss sie sich auf die Unterlippe. Dann sah man deutlich, dass zwischen den oberen Schneidezähnen ein großer Abstand war.

„Einzigste“ war ihr Lieblingswort. Immer brauchte sie eine einzigste Freundin, eine, mit der sie die Wochenenden verbringt, eine, die sich ihr unterordnet und für die Ausschließlichkeit ebenso wichtig ist wie für sie. Nein, Lore war nicht lesbisch. Sie war während einer Zugfahrt als junge Frau vergewaltigt worden. Seither ging sie Männern aus dem Weg.

Was ist von Lore geblieben?

Erinnerungen an ein paar Tage Venedig, zu viert, Ostern 1990, Lore als Tourist Guide.

Das Jaro-Kartenset mit Bildern in Silber und Gold, die Raum lassen für Fantasie, Lores Geburtstagsgeschenk zu meinem 35er. Ich nutzte die Karten lange als Schreibanimation.

Vor etwa 10 Jahren erfuhr ich per SMS von Lores Selbstmord. Es hieß, sie habe in den letzten Jahren keine einzigste Freundin mehr gehabt. Nur mehr den Alkohol.

© Sonja M. Winkler 2022-04-06

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