Esoterisches Hochamt

Jamal Tuschick

von Jamal Tuschick

Story
In der Gegend von Philippsthal an der Werra im osthessischen Landkreis Hersfeld-Rotenburg

AuthentizitĂ€t ist das Neppwort des Jahres. Adem vergleicht Steffis Älteste mit einem gefĂ€rbten Weißling (Dismorphia amphione), der unter falscher Flagge in einer Schar prĂ€chtiger Nachtfalter fliegt. Der Ziehvater fragt sich, wann Arianna auffliegen wird. In diesem Moment kommt sie spaghettitrĂ€gerisch um die Ecke und sucht den Schulterschluss mit ihrem Versorger. Machen wir uns nichts vor. Das ist der Deal: Adem ermöglicht, sprich finanziert Steffis Kindern eine solide Ausbildung und verhilft ihnen als Unternehmer und Erbe einer eingefĂŒhrten Firma zu einem hohen Status, und im Gegenzug stellt Steffi kaum je AnsprĂŒche. Sie löffelt aus, was sie sich eingebrockt hat. Sie zahlt fĂŒr Fehler, die sie ‚JugendsĂŒnden‘ nennt. Erachtet Steffi ihre Töchter als JugendsĂŒnden?  

Arianna heuchelt Interesse fĂŒr Adems esoterische HochĂ€mter. Auch jetzt bittet sie um ErklĂ€rungen. Adem fĂŒhlt sich gestört zwischen seinen Mineralaggregaten. Er nimmt Ritualhandlungen in der schĂŒtzenden Aura großkalibriger Amethyst- und Calcit-Drusen vor. Vor seinem geistigen Auge manifestieren sich prĂ€historische Konstellationen, die unmittelbar auf die Gegenwart wirken. Er befragt WĂ€chter, die Adems Gen-Dynastie schon dienten, als ihre Herrschaften die menschliche Gestalt noch nicht angenommen hatten.

Dies ist beinah das Ende der Geschichte. Ich will mich nicht mit durchsichtigen narrativen Manövern aufhalten, sondern in der Schlussphase dem arrondierenden Element mehr Raum geben. WĂ€hrend der Recherche saß ich mit Adem, Steffi und den Töchtern in der KĂŒche der Familie, die zuvor die KĂŒche der ersten Familie gewesen war, die Adem gegrĂŒndet hat. Seine Ziehtöchter streckten sie da in jugendlichem Unbehagen, wo vorher die leiblichen Kinder agiert hatten. Arianna und Chisoma zeigten sich zurĂŒckhaltender und befangener als es vermutlich die Erbberechtigten gewesen wĂ€ren. Die Situation war voller Interferenzen. FĂŒr mich fĂŒhlte es sich so an, als wĂŒrden die Töchter ihrer Mutter unter die Arme greifen und deren Position mit gefĂ€lligem Verhalten stĂ€rken. Der soziale Krampf ĂŒberlagerte all das, was eigentlich im Vordergrund hĂ€tte stehen sollen, nĂ€mlich der in der dritten Generation esoterisch begrĂŒndete Reichtum. Als mir Adem von seinen Geistern und Biestern erzĂ€hlte, hatte ich keine Referenz. Jahre spĂ€ter las ich in einem Buch von Alexander Kluge etwas, dass fĂŒr mich zur BrĂŒcke wurde. Kluge schreibt: „(Die Virologin) Karin Mölling hat mir von einem Element in unserem Erbgut erzĂ€hlt. Das ist ein ĂŒber fĂŒnf Millionen Jahre altes Virus. Das ist ĂŒbergelaufen zu den Vorfahren von uns, als wir noch nicht Menschen waren. Es sitzt in uns und verteidigt uns immer noch wĂŒtend und trĂ€umend gegen Gefahren von Bakterien und Viren von vor fĂŒnf Millionen Jahren. Die Gegner unserer Vorfahren, die hier abgewehrt werden, gibt es lĂ€ngst nicht mehr. Wenn wir mit diesem Urvirus und ÜberlĂ€ufer, der wie ein Hugenotte nach Preußen in unser Erbgut ĂŒberlief, sprechen könnten, hĂ€tten wir vermutlich Zugang zu einem Universalimpfstoff.“  

Seit ich diese Einlassung kenne, bilde ich mir ein, Adem etwas besser zu verstehen.


© Jamal Tuschick 2024-04-27

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Romane & ErzÀhlungen
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Abenteuerlich
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