Fallen

Gino Dola

von Gino Dola

Story
Japan 2024

Welche Gedanken gingen dir durch den Kopf, zwischen deinem letzten Atemzug und der Stille? Jener Stille, die in nur einem einzigen Wimpernschlag ein tiefschwarzes Loch in das eben noch bunte Leben gerissen hat. Jener Stille, die für dich der einzige Weg war, dein scheinbar dunkles Leben zu erhellen. Ich habe dich leider nie kennengelernt, konnte dir niemals ein Lächeln schenken – lebten wir doch auf verschiedenen Kontinenten. Das Land, nach dem ich mich so sehr sehne, jene Stadt, an die ich mit jedem Herzschlag denke, trauert um eine weitere liebevolle, aber geschundene Seele. Bitte verzeih mir, dass ich dich nicht früher gefunden habe! Es tut mir so unendlich leid, dass ich dich nicht festhalten konnte, dir nicht zeigen konnte, dass diese Welt auch schön sein kann, dass du schön bist. Obwohl ich weiß, dass es nie mehr eine Antwort geben wird, überschlagen sich in mir die Fragen. Welcher Gedanke trieb dich so hoch hinaus, an diesen Ort, an dem deine Augen den blauen, wolkenlosen Sommerhimmel sahen, die warmen Sonnenstrahlen sich auf dein Gesicht legten? Du warst in einem wunderschönen Garten – vielleicht hast du die Blumen dort geliebt, ihre Farben, ihren Duft – war das dein letzter Gedanke? Das tosende Leben, hunderte Meter unter deinen Füßen, legte sich lautstark in deine Ohren – hast du es noch gehört, oder warst du in deinen eigenen Gedanken gefangen? Nicht einmal im Traum würde ich behaupten, zu wissen, wie es dir ging! Das weiß ich nicht, aber ich fühle deinen Schmerz; jetzt in diesem Moment. Was nur hat dein Herz in so viele Teile zerbrochen, dein Lachen in deinem Gesicht einfach weggewischt? In meinen Gedanken stelle ich mir vor, wie ich dich umarme – ich halte dich einfach nur fest, ganz fest. Mein eigenes Ich stand auch einmal dort oben, meine Augen blickten auf die wenigen weichen Wolkenkissen, die an dem sonst leeren, blauen Himmel vorüberzogen. Die Welt war auf einmal beruhigend still, eine leichte, lauwarme Brise huschte an mir vorbei und verfing sich in einer Träne. Das Leben wirkte wie ein Buch, dessen bereits gelesene Seiten jemand komplett schwarz gemalt hatte. Die einzige Möglichkeit zu leben war, das neue Kapitel aufzuschlagen, die neuen Worte zu lesen, die das Leben zu wirren Sätzen aneinandergereiht und zu Buchseiten verklebt hat. Doch dein Buch schien zu Ende, es gab kein weiteres Kapitel. Ich hätte dir mein Buch schenken können, es hat so viele Kapitel, die noch niemand gelesen hat – aber ich war nicht da – verdammt. Ich war nicht dort oben in diesem Garten, ich war nicht da! Ich hätte dir mein Herz hingehalten, es ist auch zerbrochen, aber es schlägt noch. »Schau hin!«, hätte ich dir zugerufen, auch mein Lachen male ich mir jeden Tag in mein Gesicht. Nichts auf der Welt war es wert, dass du der Welt das Wertvollste nimmst, das sie hatte – dich. Leider hat dir niemand gesagt, wie wertvoll du bist, wie wunderschön du bist und wie schön das Leben sein kann. Ich wünsche dir, dass der bunte Garten dein letzter Gedanke war, dass der Duft der vielen Blumen in deine Nase kroch und die warmen Sonnenstrahlen dich wärmten. In meinen Gedanken bist du noch hier, doch ein neuer Morgen zeigt mir die bittere Wahrheit: Du bist nicht mehr hier. Es tut mir leid, dass dich niemand hat fangen können, dass niemand deinen Schmerz gesehen hat, dass du all das allein durchleben musstest – bevor du gesprungen bist.

© Gino Dola 2024-09-02

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Dunkel, Traurig