Sanfte, dicke Schneeflocken fallen leise vom Himmel und hüllen die Erde in eine funkelnde, weiße Decke, die den Garten in eine zauberhafte Winterlandschaft verwandelt. Emma sitzt am Abend vor Weihnachten allein in ihrem Zimmer und beobachtet fasziniert dieses Schauspiel. Die große Glasfront gewährt ihr einen klaren Blick auf die winterliche Szenerie. In nur wenigen Minuten hat sich die Welt in eine strahlend weiße Kulisse verwandelt, die Emma an nostalgischen Weihnachtspostkarten erinnert, die sie so gerne betrachtet. Früher brachte der Briefträger in der Vorweihnachtszeit oft einen Stapel Ansichtskarten mit festlichen Motiven, geschmückt mit liebevollen Grüßen von Familie und Freunden. Emma bewahrt alle Karten in einem schön gestalteten Karton auf. In diesem Schatzkistchen befinden sich kostbaren Erinnerungen.
Heute nimmt sich niemand mehr Zeit, Weihnachtsgrüße auf schönen, glitzernden Karten zu senden. Nurmehr einfallslose Textnachrichten bekunden den Gedanken an Weihnachten. Emma drückt ihre kleine Nase gegen die kalte Fensterscheibe, während sie dem schimmernden Schneetreiben zusieht. Es ist kurz vor Weihnachten, und wie in jedem Jahr sind ihre Eltern angespannt und hektisch. Emma kann sich nicht daran erinnern, dass es jemals anders gewesen wäre. Ihre Laptops und Handys scheinen ihre ständigen Begleiter zu sein, selbst in dieser festlichen Zeit. Emma fühlt sich unsichtbar. Obwohl sie erst acht Jahre alt ist, kennt sie die schmerzliche Einsamkeit.
In Emmas Brief an das Christkind steht ihr sehnlichster Wunsch. Ihre Mitschüler lachen sie aus, weil sie noch an das Christkind glaubt. Doch trotz aller Zweifel bleibt Emma überzeugt, dass es Dinge gibt, die die Erwachsenen nicht wahrnehmen – warum sollte das Christkind nicht dazu gehören? So verfasste sie, wie jedes Jahr, ihren Wunschzettel. Mit sanfter Stimme liest sie ihre Botschaft laut vor, in der Hoffnung, dass ihr Wunsch dringend an das Universum gesendet wird: „Liebes Christkind, ich wünsche mir nichts sehnlicher als ein Haustier, das mir Gesellschaft leistet und dem ich all meine Sorgen anvertrauen kann. Am liebsten hätte ich einen kuschelig roten Kater, dem ich ein schönes Zuhause geben kann.“ Emma ist sich der Bedenken ihrer Eltern bewusst, dass ein Haustier nicht in ihr durchgeplantes perfektes Leben passe und Emma noch nicht bereit für diese Verantwortung sei.
Nicht weit von Emmas Zuhause lebt eine betagte Dame, die spürt, dass ihre Zeit gekommen ist. Ihr Leben war geprägt von Liebe und einer großen Familie. Als ihr Mann vor einigen Jahren starb, fand eines Abends ein kleiner roter Kater den Weg zu ihr und schenkte ihr Trost in dunklen Stunden. Sie taufte ihn nach ihrem verstorbenen Mann, Ferdinand. Seitdem ist der Kater ihr treuer Begleiter, der sie in guten und schlechten Zeiten unterstützt hat.
© Sylvia Zemlyak-Böhm 2024-12-22