Wenn ich die verschnörkelte Inschrift in dieser seltsamen Geheimsprache lesen könnte, würde sie mir von dem alten Fluch erzählen, der auf dieser Vase lastet. Dass es alles mit einem Sonntagmorgen begann, als alle aus der Messe kamen und sich der jungen Richarda entgegenstellten, die mit ganzer Kraft versucht hatte, gegen ihr Schicksal anzukämpfen und dennoch angekettet am Hauptplatz geendet war. Dass sie die letzte Überlebende ihrer Blutlinie war, die die lange Tradition der Töpferkunst aufrechterhielt. Dass diese Vase, die vor mir in einer Kiste lag, ihr letztes Werk war und sie es kunstvoll bemalt hatte, in dem Wissen, dass es in die falschen Hände geraten würde. Die Oberfläche hart wie Gold, glänzend und unzerstörbar, würde sie ewig leben. In rätselhaften Schwüngen hinterließ sie darauf eine Botschaft für die Nachwelt und ein Versprechen. Dass die Vase mit einem Zauber belegt war, der ihre ganze Sippe rächen würde.
Für jene, die sie lesen konnten, eine Warnung. Dass jede Berührung einen Fluch auslösen würde, der ganze Generationen dauern würde. Wie ein Flaschengeist, der durch das Reiben der Oberfläche erweckt wurde, so verhielt es sich mit dem Unheil und dieser Vase. Weil jeder Kontakt mit der Vase bedeuten würde, dass man sie gestohlen hatte, dass man sie den Töpferinnen geraubt hatte. Und deshalb sollte jeder Kontakt ein kleines bisschen Leid auslösen, nicht tödlich, aber doch unangenehm, ein wenig tragisch vielleicht. Richarda war schließlich kein Unmensch gewesen, nur eben auf ein kleines bisschen Gerechtigkeit aus. Wenn nur jemand ihre Geschichte erzählt hätte, wenn der Statthalter Aufzeichnungen darüber bewahrt hätte, über ihren Tod, ihre Familie, ihr Handwerk, hätte ich es vielleicht herausfinden können. Aber Richarda wurde kein Prozess gemacht, sie hatten sie einfach als letzte aus der Hütte gezerrt mit einem gehässigen Blick auf die blau-verzierte Vase in der Mitte des Tisches, aus der längst vertrocknete Blumen ragten wie ein unheilvolles Omen. Wenn es jemanden interessiert hätte, die Inschrift zu lesen, zu verstehen. Wenn es jemand früher herausgefunden hätte, wäre die Vase wohl nie in dieser Kiste in dieser Forschungseinrichtung auf diesem, meinem Arbeitstisch gelandet. Und wenn ich die Geheimsprache lesen könnte. Doch ich kann sie nicht lesen. Und deshalb greifen meine behandschuhten Finger nichtsahnend nach den filigranen Henkeln und heben die Vase aus ihrem strohenen Bett.
© Melanie Hofstätter 2024-08-25