von Jürgen Heimlich
Das Prager Tagblatt berichtete Anfang Oktober 1918, dass sich die spanische Grippe mit großer Wucht in Prag ausbreite. Parteanzeigen in Zeitungen verdeutlichten, dass viele junge Menschen nach kurzer, schwerer Krankheit verstorben waren. Auf den Straßen brachen Grippekranke immer wieder zusammen.
Am 14. Oktober bekam Franz Kafka Fieber. Er schrieb kurz an seinen besten Freund Max Brod: „Ich habe etwas Fieber.“ Tatsächlich hatte man bei ihm mittags 41 Grad Temperatur gemessen. Kafka war also schwer krank und in Todesnähe. Doch wie durch ein Wunder überlebte er. Noch bettlägrig begann er, seine Erzählung „In der Strafkolonie“ zu überarbeiten. Er laborierte fünf Wochen an der spanischen Grippe, und trat hernach wieder seinen Dienst an, nur um kurze Zeit später wieder zu erkranken. Eine Woche später war er gesund genug, um sich auf einen Erholungsaufenthalt in Schelesen zu begeben. Im Dezember erkrankte dann auch Max Brod an der spanischen Grippe. Bei ihm war offenbar ein milder Verlauf gegeben. Denn nach nur einer Woche scheint er die Krankheit überstanden zu haben.
Was erstaunlich ist: Franz Kafka hat sich abgesehen von kleinen Berichten in Briefen nicht übermäßig mit der Pandemie beschäftigt. Er hat sich weiterhin schriftstellerisch betätigt, und viel Wert darauf gelegt, auch arbeitsfähig zu bleiben. Und in literarischer Hinsicht ließ er die spanische Grippe völlig ausgeklammert. Es lässt sich also konstatieren, dass er mit der Pandemie eher gelassen umging, obzwar er selbst die Krankheit mit voller Wucht durchlitten hatte. Angesichts seiner Vorerkrankungen und einer Lungenentzündung, die sich bei ihm in Folge der spanischen Grippe einstellte, blieb er sich selbst treu und es ist davon auszugehen, dass er die hygienischen Maßnahmen, das Tragen einer Maske auch im Freien und überhaupt alle verordneten Maßnahmen, die von den Prager Bürgerinnen und Bürgern eingefordert wurden, als Selbstverständlichkeit einhielt und mit der Pandemie zu leben verstand, ohne sich dadurch eingeschränkt zu fühlen.
Überhaupt war es damals nach dem, was uns überliefert ist, so, dass die Menschen die Pandemie einfach hinnahmen und mit der neuen Situation lebten. Kann sein, dass es mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und dessen Folgen zusammenhing. Viele Menschen waren arm, und mussten versuchen, irgendwie über die Runden zu kommen. Die Pandemie war also nicht so im Fokus, wie es bei Covid 19 der Fall ist.
Wenn wir den Umgang von Franz Kafka mit der spanischen Grippe als beispielhaft betrachten, dann sind seine Selbstverständlichkeit, diese Pandemie zu akzeptieren und seine Gelassenheit hervorzuheben. Die Welt bricht in Folge einer Pandemie nicht zusammen, das Leben geht weiter. Und es wird ein Leben nach der Pandemie geben. Darauf sollten wir uns einstellen. Und darauf hoffen, dass sich zumindest in kleinen Bereichen etwas in positivem Sinne verändert haben wird, auch wenn das nicht unbedingt zu erwarten ist.
© Jürgen Heimlich 2020-10-08