Geisterschloss, Wiener Prater

AdaMea

von AdaMea

Story
Wien

Über eine geheime Telefonnummer kontaktierte ich Dot. Paul hasste den Wiener Prater bei Dunkelheit und war an der Station „Nestroyplatz“ aus der U-Bahn geflüchtet. Sein Winken verwischte, als die Zuggarnitur ächzend in den nächsten Tunnel fuhr.
Am Praterstern kämpfte ich mich an die Oberfläche. Gedankenversunken schlenderte ich auf das Wiener Riesenrad zu, dessen leuchtende Gondeln sich vom schwarzen Nachthimmel abhoben. Es waren kaum Menschen auf der Straße. Niemand wollte sich gegen den kalten Sturm stemmen, der aus dem Nichts gekommen war.
Als ich vor dem Geisterschloss stehenblieb, war ich gefühlt allein auf dieser Welt. Die Dämonen an der Außenfassade verrenkten ihre maschinellen Glieder und brüllten ihr Grauen in den Nebel hinaus. Hätte ich hier nicht in zahlreichen Ferien gearbeitet, wäre ich vor Angst davongelaufen. Ich starrte dem Skelett in die Augenhöhlen und erinnerte mich an meine Jugend zurück.
Damals hatten Dot und ich im Prater ausgeholfen und unser erstes Geld verdient. Während mein Vater als Taschendieb die Touristen beklaute, um unseren Alltag zu finanzieren, verkleidete ich mich als Monster. Mittlerweile hatte Dot die Geisterbahn gepachtet und sich im Inneren eine Hackerzentrale eingerichtet. Das Kassahäuschen wurde von einem fettleibigen Mann besetzt, der grantig eine Zigarette rauchte.
„Fahr eine Runde“, schrieb Dot.
Sie hatte schon immer einen Hang zur Dramatik gehabt. Ich löste eine Eintrittskarte und ratterte in einem gruseligen Wagen in den Schlund des Geisterschlosses hinein.
Ein paar Attraktionen waren neu. Fiktive Spinnweben wischten über mein Gesicht. An der schreienden Mumie setzte sich Dot zu mir auf die Sitzbank. Wir stiegen wenig später aus und huschten über die Hinterwege in ihr geheimes Büro. Ich überreichte ihr Raphael Adlers Smartphone.
„Ich muss alles über ihn wissen“, sagte ich. „Kontaktdaten, Nachrichten, Notizen. Einfach alles. Könntest du auch ein Tracking für die Nummer installieren?“
Dot musterte mich prüfend. „Du bist nicht verkleidet“, stellte sie fest. „Warum?“
„Es war die erste Observierung“, entgegnete ich. „Und du? Du hast deine Haare abrasiert.“
Dot strich ĂĽber ihre Glatze. Wer sie nicht kannte, musste denken, dass sie ein Mann war.
Ihr Name in der Hackerszene lieĂź keinen RĂĽckschluss auf ihr Geschlecht zu. Dot wollte nicht in eine Schublade passen, in keine einzige. So war sie zu einem Punkt im Universum geworden. Einen Sommer lang hatten wir uns geliebt.
„Ich beeile mich“, versprach sie mir. „Morgen hast du alles, was du brauchst.“
„Danke, Liebes.“
Als sie mich kurz darauf zum Hintereingang begleitete, holte uns die Vergangenheit ein.
In der Rumpelkammer hatten wir uns das erste Mal geküsst, zwischen Gorillamasken und Totenköpfen.
„Pass auf dich auf, Valentina“, beschwor sie mich.
„Das werde ich. Mach dir keine Sorgen.“
Als sie mich zum Abschied am Arm berĂĽhrte, spĂĽrte ich ihre brennende Sehnsucht auf der Haut.

© AdaMea 2024-03-16

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Abenteuerlich, Herausfordernd, Dunkel, Emotional
Hashtags