Gott zwinkert nicht

Conny sieht mich lächelnd an. Dann lacht sie los. “Ich weiß schon, wieso das so ist, dass du dauernd mit Menschen aneinander gerätst.“ “Ah ja?”, schmunzle ich: “Dann lass mal hören!” “Du blinzelst nicht.” “Waaas?”, lache ich prustend. “Du blinzelst nicht.”, wiederholt sie: “Naja, also schon, aber nur ganz wenig.” Ich winke ab und sage: “Du spinnst doch!“ “Nein, wirklich! Schau doch mal in den Spiegel! Normal blinzelt man doch ständig. Aber du nur so … alle paar Sekunden. Also, vielleicht vier Mal in der Minute oder so. Und dazwischen schaust du einen nur an. Und dieser Blick!”, sie hält ein wenig inne: “Der Blick! Er geht einem durch und durch. Als würdest du einem ins Herz schauen. Es ist irgendwie … naja, nicht spooky, aber … hypnotisierend. Als würde man warten, wann du endlich erlösend wieder blinzelst, vertehst du?” Ich sehe sie an. “Du hast viel Zeit, nachzudenken, um auf so einen Käse zu kommen, kann das sein?”, frage ich. Conny lacht. Dann drückt sie sich an mich, legt meine Arme um sich. “Ich mag diesen Blick. Er zieht mich an. Er ist… sexy irgendwie. Deine braunen Augen, … Wenn du mich so ansiehst, mit deinem immer dreckigen Grinsen auf den Lippen und mit ohne Blinzeln. Es macht mich … scharf.” Ich seufze. Conny sieht mich an. Ich sehe sie an. Dann reiße ich die Augen auf, blinzle zwei Mal überdeutlich. Conny beginnt zu kreischen: “Oh Gott, wie gruselig! Mach das nie wieder!“

In meiner Schulzeit bemühte sich der alte Dechant redlich, uns von Gott ein modernes Bild zu vermitteln. Gott sei nicht der liebe alte Mann mit Rauschebart. Er sei auch nicht der zornige Wüterich, der die Menschheit aus einer Laune heraus in rollenden Wellen ersäuft. Gott sei Liebe. Ich tat mir schwer damit in diesen jungen Jahren. Und – so sagte er: “Gott zwinkert nicht.” Ich hob die Hand. “Gott zwinkert nicht?”, fragte ich, weil ich nicht verstand, was ich damit anfangen sollte. Der Dechant lächelte, dann nickte er. “Weißt du, Gott zwinkert nicht, weil er alles sieht. Er sieht jeden Moment, er sieht jeden Augenblick, er sieht das Gute, das wir tun und das Böse, und wenn er zwinkern würde, dann würde er doch einen Augenblick verpassen. Und weil Gott aber alles sehen muss, damit er uns am Ende unseres Lebens beurteilen kann, darum kann er nicht zwinkern.” Das leuchtete ein.

Ich bin kein Gott. Ich habe nicht den Anspruch, alles zu sehen, um Menschen zu beurteilen. Ich sehe Menschen in die Augen – grundsätzlich. Und ich lese sie. Manche Menschen sind gut. Manche Menschen sind schlecht. Ich halte nicht Gericht über ein Leben. Ich halte dienstlich Gericht über Lebensepisoden. Dabei schadet es nicht, wenn ich blinzle. Und gelegentlich schließe ich sogar für ein paar Sekunden die Augen, um nicht alles zu sehen.

Als ich vor dem Spiegel stehe und in meine Augen sehe, stelle ich fest: Ich blinzle wirklich sehr selten. Mein Blick ist zielsicher und durchdringend. Selbst ich spüre ihn in meinem Herzen. Was ich sehe, tut mir weh. Ich seufze, und dann schließe ich traurig meine Augen.