von Moritz Gerlach
Wir sitzen auf einem Bahnübergang, spärlich vergittert und grau. Der Himmel zeigt uns ein Bild, dass schöner nicht sein könnte. Eine Armee aus kleinen Wolken marschiert Reihe um Reihe in die Feuer der erstem Morgenstunden, eingetaucht in ein Rosa, welches mit einem Stich Orange spielt. Der Himmel ist noch grau, so wie alles andere in dieser Phase des Tages. Ich bin noch ein bisschen angetrunken von dem Abend, gerade so sehr, dass ich fasziniert auf den Himmel starren kann, aber nicht so stark, dass ich anfange zu weinen.
Er sitzt neben mir, hält an der Weinflasche fest, die wir schon längst leer getrunken haben. Er nimmt immer alles mit, bis er es ‘angemessen entsorgen‘ kann. Selbst unsere Konzerttickets vom ersten Date hat er erst bei sich zuhause weggeworfen, weil nirgendwo ein Papiermülleimer war. Es fällt ihm nicht schwer, loszulassen. Er wartet nur auf den richtigen Moment.
„Okay“ sagt er und bricht damit unsere lange Stille. „Meine Bahn kommt gleich. Ich muss los. Das war wirklich-“
„Schhhh“ mache ich. „Hörst du die Musik?“
Von dem Bahnsteig hört man zwar den leisen Bass eines Rocksongs der späten 90er Jahre, doch das meine ich nicht. Nicht ganz jedenfalls. Es ist auch ein Teil. Ich atme tief ein und höre zu.
Der leise Bass des Studenten. Eine Frau, die Fahrrad fährt. Der Wind in den Bäumen. Ein Zug, der langsam vorbeifährt. Ein Kassierer, der den Kiosk aufschließt. Sein Schweigen, weil er ahnt, in welche Richtung das geht. Ich atme aus.
„Es ist perfekt.“
Ich mache ein Foto. Man sieht die Bäume, die fernen Gebäude, den wunderschönen Himmel. Ganz oben hängt eine dünne Scheibe vom Mond, thront über allem anderen.
„Kameras sind das Menschlichste, was es gibt.
Einen Moment festzuhalten, ein Gefühl an beiden Händen zu fassen und zu sagen: ‚Ich will nicht, dass du gehst.‘
Welche andere Spezies denkt so? Wer außer uns muss den Sonnenschein auf einem Bild gefangen halten, um ihn zu genießen, weil er sich dann sicher sein kann, dass dieser nicht sofort und für immer wieder verschwunden ist?
Wir sind nicht dafür gemacht, loszulassen.
Von Gott, oder der Natur, oder dem Zufall oder wem auch immer haben wir das Geschenk erhalten, weiter zu denken als darüber, wie man überlebt. Wir können in den blauen Himmel schauen und ihn fragen, ihn verzweifelt anbetteln oder ihn aus tiefster Trauer anschreien: ‚Wie lebe ich?‘“
© Moritz Gerlach 2023-08-22