Jahrtausendhochwasser

P-Hildegardsen

von P-Hildegardsen

Story

August 2002. Das Datum vergißt man als Betroffener nicht so schnell. Nach einer längeren Zeit der Hitze hat es am Sonntag Nachmittag zu regnen begonnen. Wir hüpften voll Freude im Garten zwischen den großen, warmen Tropfen herum. Am Montag war wieder Büroarbeit angesagt und am Mittwoch nützte ich mit einer Freundin den günstigeren Kinotarif in Wien. Ja, es regnete auch in Wien. Aber ich verstand die Nachricht nicht, die ich nach Filmende gegen 20 Uhr auf meiner Mobilbox hatte. Zuhause in Niederösterreich wäre Wasser im Haus? Ich versuchte, jemanden im Ort zu erreichen. Niemand hob ab. Weder auf den Festnetznummern noch auf einem Mobiltelefon. Das war eigenartig. Irgendwann in der Nacht erhielt ich einen Anruf (die Sprachqualität war sehr schlecht, starkes Rauschen und kaum etwas zu verstehen), ob ich am nächsten Morgen kommen könnte, um beim Aufräumen zu helfen. Mit dem ersten Zug fuhr ich raus – wieder war niemand telefonisch erreichbar. Die Straßen gesperrt – wegen dem Hochwasser. Es war dunstig heiß und abartig still. Keine Vögel zu hören, auch sonst nichts. So als hätte mir jemand Watte in die Ohren gesteckt.

Irgendwann wurde ich mit einem Sonderfahrzeug abgeholt, die Fahrt ging über Berge und durch Wälder – die normale Straße war unpassierbar. Dann im Ort – die enorm breite braune Brühe, reißende Geschwindigkeit, Elektrogeräte, Bäume, Gartenmöbel – alles trieb vorbei. Dort, wo sich das Hochwasser zurückgezogen hatte, blieb eine dicke Schlammschicht. Wenn man da durchging, zog es einem die Gummistiefel aus. Ölige Schlieren bedeckten die Felder und die Gemüsebeete. Es gab kein warmes Wasser, der Strom fiel immer wieder aus, kein Telefon ging (man konnte nur auf den nächsten Berg fahren, denn dort klappte es über einen einzigen Mobilfunkanbieter). Automatisch fingen wir an, die Häuser zu putzen, mit kaltem Wasser. Es gab nichts mehr. Kein Klopapier, keine Handtücher, kein sauberes Geschirr, nichts zu essen, keine Zahnpasta, kein Waschpulver – nur die Spuren an jeder Wand, wo das Wasser in den Häusern bis 150 cm oder höher stand.

Geisterhafte Stille über dem Ort. Wenn man draußen jemandem begegnete, dann sah jeder den anderen mit riesengroßen Augen an, bewegte sich wie ferngesteuert. Immer wieder hörte man auf das Rauschen das Baches und die Strömungsgeräusche des Flusses. Der ORF kam, Politiker, Helfer vom Bundesheer. Wir waren dankbar, vom Roten Kreuz zumindest die wichtigsten Hygieneartikel zu bekommen. Die meisten Elektrogeräte waren kaputt, eine Schadenskommission ging von Haus zu Haus. Kaum waren die Häuser einigermaßen sauber, kam ein paar Tage später die nächste Welle. Nicht mehr so hoch, aber doch überall wieder in den Häusern. Die Lagerungen auf den Straßen für die Sperrmüllabholung wurden immer größer. Das Ereignis wurde als „Jahrtausendhochwasser“ tituliert. Jetzt liest man nur noch vom „Jahrhunderthochwasser“ – egal, es ging soviel verloren. Auch das Vertrauen in die Zusagen der Politiker.

© P-Hildegardsen 2019-07-01

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