von Anne-Green
Sucht. Etwas, das Menschen verändert. Etwas, das Menschen kaputtmacht. Etwas, das sie auffrisst. Etwas, das ein Mörder ist.
Es begann schon ganz früh. Mama stand in einem hübschen, geblümten Sommerkleid vor dem Spiegel. Sie schaute sich kritisch an. Sie zupfte an dem Kleid herum, zog den Bauch ein, drehte sich auf die Seite und drückte ihren rechten Oberschenkel mit den Händen zusammen. Ich stand daneben. Schaute sie an. Ich dachte: „Sie sieht wunderschön aus“. Die Farbe des Kleides, ließ ihre Augen strahlen und das Blumenmuster gefiel mir. Aber Mama schaute sich kritisch an. Und plötzlich schaute sie auch mich kritisch an. Sie sagte, wenn sie nicht schwanger gewesen wäre, dann wäre ihr Bauch jetzt nicht so dick. Sie sagte, wenn sie nicht schwanger gewesen wäre, dann wäre ihre Haut straffer und Papa würde sie öfter ansehen. Ich guckte zu Boden. Bin ich das Problem?
Mit elf Jahren stand ich vor dem Spiegel. Ich schaute mich kritisch an. Wieso waren meine Haare so dünn? Und warum quoll der Speck über meinen Hosenbund? Wieso waren meine Schenkel so fett?
Mama stand daneben. Schaute mich kritisch an. Sie sagte, sie müsse mir größere Hosen kaufen. Sie sagte, mein Bauch passe nicht mehr hinein. Den ganzen Tag dachte ich über mein Spiegelbild nach. Über meine Hose. Über Mamas Worte und ihren kritischen Blick. Am Abend, als ich sah, wie mein jüngerer Bruder sein Brot mit einer fetten Schicht Butter beschmierte und obendrauf Schoko-creme verstrich, sagte ich, ich hätte kein Hunger. Ich saß mit am Tisch, doch der Appetit ist mir vergangen.
Am Morgen darauf nahm ich mir nur ein Apfel mit in die Schule. Dort sah ich die Mädchen in meiner Klasse kritisch an. Die meisten waren dünner als ich. Sie waren schöner als ich. Trugen kleinere Kleidergrößen und irgendwie fühlte ich mich ertappt. Ich zupfte an meinem Oberteil, damit man ja nicht sehen konnte, dass ich zugenommen hatte. Im Sportunterricht zog ich mich nicht wie alle anderen in der Sammelumkleidekabine um, sondern verschwand auf die Toilette, in der man mich und meinen dicken Bauch nicht beobachten konnte. Zu Hause weinte ich, weil ich mich so falsch und unwohl fühlte. Ich fühlte mich furchtbar hässlich und ich wusste, ich muss dringend etwas unternehmen.
Ich ließ jeden Tag mindestens eine Mahlzeit ausfallen. Ich ließ meinen Magen hungern. Ließ mich auffressen. Ließ mich kaputtmachen. Ließ mich verändern. Ließ mich ermorden. Ich ließ mich fallen. In ihre Hände. In die Hände der Sucht.
© Anne-Green 2023-07-01