von Jamal Tuschick
âWir sind Ăberlebensmaschinen – Roboter, blind, programmiert zur Erhaltung der selbstsĂŒchtigen MolekĂŒle, die Gene genannt werden.â Richard Dawkins
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âAuf jede Ăberforderung hin suchen Menschen nach einer ErzĂ€hlung.â Alexander Kluge
Von den Eltern verlassen, bei Verwandten aufgewachsen – das Schicksal von âGastarbeiterâ-Kindern tĂŒrkischer Herkunft ist im kollektiven Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft bis heute nicht vorhanden.
In der Ăra der Anwerbung ging es nur um die Arbeitskraft. Das erste Abkommen mit der TĂŒrkei kam 1961 ohne BerĂŒcksichtigung der Kinderfrage zustande. In der deutschen Administration ersetzte man âFremdâ mit âGastâ, um die Arbeiter dann wieder fast genauso unterzubringen wie gehabt: Das heiĂt konzentriert in Baracken. Die Perspektiven koinzidierten: alle gingen von kurzer Dauer der Arrangements aus. Kinder wurden bei den GroĂeltern geparkt. Das ist ein ausgespartes Thema. Mitunter hielten die ZurĂŒckgelassenen die GroĂeltern fĂŒr ihre Eltern. Wenn sie dann nach Deutschland verbracht wurden – in der Konsequenz mutierter Lebensplanungen – kollabierte ihre stĂ€rkste Bindung unbesprochen. Nun konnten die gesetzlichen Eltern schlecht erklĂ€ren, warum sie den nachkommenden Nachwuchs erst einmal ausgeschlossen hatten.
âDas zurĂŒckgelassene Kind entwickelt SchuldgefĂŒhleâ, erklĂ€rt GĂŒlcin Wilhelm, siehe âGeneration Koffer. Die Pendelkinder der TĂŒrkeiâ. Das Kind vermutet GrĂŒnde fĂŒr die Isolation in der eigenen UnzulĂ€nglichkeit. âAus dem Muster der Selbstverurteilung rĂŒhrt der Drang, sich extra zu beweisenâ, in der vergeblichen Hoffnung auf immediate-return. GĂŒlcin Wilhelm findet dafĂŒr das Bild: âDu wirfst einen Stein nach dem anderen in einen bodenlosen Brunnenâ.
Trainingssache Mutterliebe
âEs gibt keinen Mutterinstinktâ, sagt GĂŒlcin Wilhelm. Auch Mutterliebe ist Trainingssache. Da gerieten in vielen Konstellationen Fremde aneinander und sollten sich doch als Familie verstehen. Wie darĂŒber reden?
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Könnte Adem den Geisteswissenschaften eine angemessene Bedeutung zubilligen, fiele es ihm leichter etwas zu verstehen, was in seiner Familiengeschichte nie aufgeklĂ€rt wurde. Die AufklĂ€rung fĂŒhrt zu einem Abgrund. Der Abgrund tut sich dann auf, wenn einer erkennt, dass er fĂŒr die gefĂŒhlskalte Mutter keine unerwiderten GefĂŒhle aufgebracht hat. Eine Kindheit im KĂŒhlschrank.
© Jamal Tuschick 2024-04-26