Kleine Schwester

MISERANDVS

von MISERANDVS

Story

Als wir beim Notar hocken, und die Verlassenschaft meines Vaters abschließen, flachse ich mit der Magistra. Sie ist ein witziger Mensch, sarkastisch, und das gefällt mir. Scheiß öde Zahlendreherei! Da muss man albern. Mutti hat sich ausgeklinkt. Sie will vom Erbe nichts, lehnt sich entspannt zurück. Mein Blick fällt auf meine kleine Schwester. Sie blickt apathisch vor sich hin. “Hast du verstanden?”, frage ich sie. Sie schreckt aus ihren Gedanken hoch. Von uns dreien vermisst sie Vati am meisten. Sie weint sehr oft. Die Magistra will es ihr noch einmal erklären. Ich hebe die Hand in ihre Richtung. Dann lege ich meine Hand auf den Arm meiner Schwester. Sie sieht mich an, Tränen in ihren Augen, und sie wirkt so verloren. Ich wische ihre Tränen mit meiner riesigen, warmen Hand von der Wange. Dann erkläre ich ihr noch einmal, was es zu entscheiden gilt. Sie hört mir zu, weil ich ihren Kosenamen verwende und meine sanfte Stimme sie an der Hand nimmt, wie damals, als sie mit ihrem Pferdeschwanz aus Haaren am Kopf, lächelnd und beschützt vom großen Bruder, mit mir zum Kindergarten gehopst ist. Als ich schweige, blickt sie mich an. Die Magistra sagt: “Das war sehr schön erklärt.” und meint mit schön wohl “liebevoll”. Sie lächelt mich an. Meine kleine Schwester hebt sie das Kinn in meine Richtung. Ich soll für sie entscheiden. Dann schiebt sie ihre kleine Hand wie damals in meine, die groß und mächtig und haarig auf dem Tisch liegt. Ihre filigranen Fingerchen fassen sie ganz fest, und ich drücke sie sanft. Als ich zu sprechen beginne, überschlägt sich meine Stimme. Kloß im Hals. Ich räuspere mich. Den Rest der Show mache ich alleine mit der Magistra aus. Und dabei streichle ich mit meinem Daumen die Hand meiner kleinen Schwester.

Als alles unter Dach und Fach ist, stehen wir noch eine Weile vor dem Haus und rauchen. „Fährst du noch mit zum Friedhof?“, frage ich meine kleine Schwester. Sie schüttelt den Kopf. “Ich war vorhin schon bei Vati.” “Dann bring ich dich heim.“, sage ich. Sie nickt. Als wir die Straße zum Parkplatz überqueren, nimmt sie meine Hand, schiebt ihre Finger zwischen meine, lehnt sich im Gehen an mich. Wie damals.

Am Wagen angekommen, mach ich die Türen auf. Mutti setzt sich rein. Meine kleine Schwester steht da, sieht mich an. Dann fällt sie mir in die Arme und beginnt so herzzerreißen zu weinen und zu schluchzen, dass ich sie fest an mich drücke. “Sie haben mir Vati weggenommen, diese Schweine!”, presst sie hervor. Ich blicke mit zitternden Lippen über ihren Kopf hinweg, und dicke Tränen fallen auf ihr Haar. “Ja, das haben sie.”, schniefe ich. Sie haben Vati im Krankenhaus sterben lassen. Ihn, der so gern lebte und nur vor dem Tod Angst hatte.

Meine Hände sind nicht so warm wie die von Vati, meine Arme nicht so stark wie seine, und mein Herz ist nicht so groß wie seines. Ich bin nicht Vati. Ich bin nur ein großer Bruder, der seine heulende kleine Schwester im Arm hält. Und ich bin ein Sohn, der sieht, wie Mutti ihre Tränen im Wagen heimlich wegwischt.

© MISERANDVS 2021-03-31

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