Königin der Nacht

Susanne Paulus

von Susanne Paulus

Story

Es ist kurz nach Mitternacht, ich bin auf dem Heimweg von einem Besuch bei Freunden. In der gähnend leeren U-Bahn-Station klärt mich ein freundlicher Mitarbeiter der Wiener Linien auf: „Do foahrt heit nix mehr.“ Meinem erstaunten Blick spendet er die allumfassende Aufklärung: „Sundog is!“ – Alles klar. Sonntag ist’s. Da gehen die Öffis früh schlafen.

Nicht so eine nachtschwärmerische Wienerin wie ich! Die lässt sich den angebrochenen Abend nicht von einer transporttechnischen Sperrstunde vermiesen. Aus dem Untergrund finde ich über endlose Gänge und Treppen den Weg hinauf ans Kunstlicht auf der Straßenoberfläche, auch das Absperrgitter kriege ich auf, was mich selbst wundert. Die Turmspitze des Stephansdoms strahlt in nicht allzu weiter Ferne über dem Häusermeer und wird Lotse bei meinem Fußmarsch. Es gilt die Innere Stadt zu durchqueren, um in mein heimatliches Grätzel zu gelangen.

Es könnte aber auch auf dem Mars sein, so menschenleer, wie es hier ist – nur prachtvoller. Der „schönste Boulevard der Welt“, die Ringstraße rund um den ersten Bezirk, zeigt frivol ihre sanften Kurven und was sie an gründerzeitlichem Prunk und Eleganz zu bieten hat.

Während ich vordringe in den historischen Stadtkern, in die immer enger werdenden Gassen, folgt mir ein Hauch der seltenen Stille einer Stadt. Meine Schritte werden langsamer. Immer mehr wird mir die Einzigartigkeit dieser Situation bewusst, dieses Dialogs mit der vertrauten Umgebung, die sich mir heute neu erschließt und offenbart. Ich bin mit der Stadt allein und sie hat mich ganz für sich. Kann man eine Stadt lieben? Ihre Schönheit, ihre Geschichte, Kultur, Beständigkeit und Charme? Es ist unsere Stunde. Ich schenke ihr meine ungeteilte Aufmerksamkeit, taste die herrlichen Fassaden und kunstvollen Details mit meinen bewundernden Blicken ab, lasse mich von dem Flair dieses Moments durchdringen. Das Nichtvorhandensein der üblichen Geräuschkulisse irritiert mich, bevor es mich verzaubert und Glücksgefühle freisetzt.

Vor dem Stephansdom bleibe ich stehen. Ich lausche. Nichts. Absolute Stille. Im Herzen einer pulsierenden Weltstadt spüre ich meinen eigenen Herzschlag. Das ist ihr Geschenk. Sie kann auch leise sein. Eine Grande Dame, die weiß, wann es besser ist zu schweigen. Ihre Bewohner brauchen das, um eine Pandemie zu überstehen. Sie ist meine Königin der Nacht.

Den weitläufigen Graben, Wiens Nobelmeile, schreite ich wie eine Diva entlang, der sich aller Glanz und Glitzer in den hell erleuchteten Auslagen der Luxusboutiquen exklusiv präsentiert. Alles nur für mich!

Den aus Studienzeiten bekannten Abkürzungen durch verwinkelte Gassen folgend, vorbei an jahrhundertealten Häuserzeilen und erhabenen Palais, nähere ich mich meinem Zuhause. Der Fahrer des Nachtbusses hat mich gesehen und wartet in der Station auf mich. Ich winke dankend ab, denn es ist nicht mehr weit. Er hebt die Hand zum Gruß.

Das ist mein Wien!

© Susanne Paulus 2021-04-12

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