von Andreas Ruhland
Leise weht der Wind in den Pappeln. Nur das Rauschen der BlĂ€tter ist zu hören, sonst ist es fast still. So weit das Auge reicht â nur Wiesen und Felder â nichts, was diesem Blick im Wege steht: freie Sicht bis zum Horizont. Welch ein Morgen in diesem Licht! Noch immer ist es angenehm warm. Grillen zirpen, Vögel zwitschern. Ein friedlicher Ort. Eine zeitlose Ruhe. Nichts, was einen ablenken könnte. Nichts, was mich an dem Schönen und Guten, das uns umgibt, zweifeln lĂ€sst. Und dennoch finde ich kaum Worte fĂŒr das, was mir durch den Kopf geht. Ich suche nach einem Punkt, der mir bekannt vorkommt, an dem ich festhalten kann, um auszumachen, was hier einmal war, wie es einst aussah, wie viel Leben hier existierte, welche GerĂ€usche die Menschen einst in diese Stadt kippten, wie leicht es war, hier weg zu gehen und wie unwirklich es sich anfĂŒhlt, nun wieder hierher zurĂŒckzukommen. Nichts, rein gar nichts erinnert noch an das Leben in diesen StraĂen. Alles ist verschwunden. Wo sind die Menschen? Kam eine Apokalypse und hat alles und jeden mit sich genommen? Vielleicht hat dieser Ort nie wirklich existiert? Du weiĂt um all das, was hier einst war, doch nichts ist mehr davon auszumachen. Es sind nicht nur die Menschen, die nicht mehr da sind, es ist der Beton, es sind die StraĂen, die Autos, die Schulen, die Kaufhallen, die Polikliniken und die dunkle Treppe in den Keller des Neubaublocks, auf dem ich als Junge den Kadaver einer Katze fand. Es sind die Freunde, es sind die Gesichter der Kinder, die in meine Klasse gingen, deren Namen ich bis heute entsprechend der Sitzordnung in unserem Klassenraum aufzĂ€hlen kann. Mein Herz rast. Ich bin seit dreiĂig Jahren weg und dennoch ist dieser Ort ein Teil dessen, was ich Heimat nenne. Doch es ist nicht mehr der Platz, den ich damals verlassen habe. Ich finde kaum einen Punkt, an dem ich anknĂŒpfen kann und in meinem Kopf kreisen die Gedanken zwischen Gehen und Bleiben, zwischen Flucht und Erinnerung, zwischen Warten und Entscheiden. Ich weiĂ nicht, wie lange ich es hier aushalte â der Anblick dessen, was ich getrost als âNichtsâ bezeichnen wĂŒrde, macht mich ein wenig schwermĂŒtig. Ich erkenne ein paar alte Gehwegplatten â Reste einer vergangenen Welt, die unter dem Gras ihr letztes Existenzrecht behaupten. Ich erinnere mich an vieles, doch es gibt keinen Beweis dafĂŒr, dass ich hier meine Kindheit verbracht haben soll. Als wĂ€re ein Teil meiner Geschichte ausgelöscht. Die Erinnerung, die Sehnsucht und die Fragen an diesen Ort hatten bei mir kaum Platz in den letzten Jahren. Vielleicht habe ich vergessen, vielleicht war ich gut abgelenkt, doch dieser Stoff wirkt nicht mehr oder ich bin immun dagegen geworden. Ich sehe Dinge, die nicht mehr da sind, erinnere mich an Menschen, von denen ich nicht weiĂ, wie sie es hier rausgeschafft haben oder ob sie hiergeblieben und mit allem anderen verschwunden sind. Ich erinnere mich an Situationen, von denen ich nicht weiĂ, ob sie wirklich passiert sind. Diese Gedanken trage ich in letzter Zeit hĂ€ufig mit mir herum und jetzt, wĂ€hrend ich hier bin, scheinen sie mir doch fĂŒr einen Moment lang belanglos zu sein. Manch einer wĂŒrde sagen: âLös dich von der Vergangenheitâ oder âDas war ein anderes Land, eine andere Zeitâ. Doch gerade jetzt kommt so vieles zurĂŒck und ich hoffe nur, dass ich meine Fragen nicht zu spĂ€t stelle, weil vielleicht bald keiner mehr da ist, der mir eine ehrliche Antwort geben kann.
© Andreas Ruhland 2024-03-18