von Imme Scheit
Altenpfleger ist der beschissenste Traumberuf, den es gibt. Ganz ehrlich, wo sonst klaffen Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinander?
„Darauf zu warten, dass die Politik etwas ändert, ist wie ein Tunnel ohne Licht am Ende“, sagt meine 75-jährige Patientin Helma mit Nahtoderfahrung. Da sie dement ist, sagt sie es jeden Tag wieder. Ich könnte mit ihr Schach spielen, sie war mal Profi. Zusammen könnten wir gegen die Demenz trainieren, wenn ich Zeit dafür hätte. Hätte, hätte, Fahrradkette …
Autoabgase wehen mir in die Nase. Ein Transporter drängelt sich an mir vorbei, ruft was von Fahrradspur, aber auf der Fahrradspur parken Autos. An der roten Ampel komme ich zum Stehen. Um mein Fahrrad herum glitzern abertausende von Glasscherben zwischen Hundekot und Dreck. Mensch, Hamburg …
Tröööööt! Der metallicblaue BMW hinter mir hupt mich aus den Gedanken. Vor Schreck verliere ich fast den Halt, fange mich aber gerade noch. Die Ampel zeigt Grün. Ich trete in die Pedalen meines Rennrades. Da ich’s dem BMW-Typ nicht gönne, mich zu überholen, fahre ich in der Mitte der Spur weiter, bis ich endlich von der großen Straße wegkomme.
Die nächsten zwei Kilometer zur Arbeit sind die besten. Ich pese am Anleger Mühlenkamp vorbei, die Morgensonne im Gesicht, und biege Am Langenzug rechts ab zur Außenalster. Während ich mich ein Stück rollen lasse, recke ich die Arme nach oben und gebe einen Befreiungsschrei von mir. Ich bin eigentlich keine Lerche, früh aufstehen geht gegen meine Natur. Doch die Morgenstimmung an der Alster, mit dem orangen Glitzern auf den Wasserkräuselungen, und der Hamburger Brise im Gesicht, pustet meine muffelige Laune vor jeder Frühschicht fort. Und dann hab ich sogar Bock auf Arbeiten.
Sechs Kilometer später schließe ich mein Rad vor meiner Arbeitsstelle ab, der Pflegeeinrichtung Am Hammerpark. Ein typischer Hamburger Backsteinbau, so alt und voller Storys wie unser ältester Patient. Auf dem Schild vor dem Eingang hat die Leitung kürzlich „Seniorenheim“ durch „Pflegeeinrichtung“ ersetzt.
Niemand möchte ins Heim, niemand möchte als Senior gelten. Pflege klingt nach Wohlergehen, Behutsamkeit und verschleiert leichterhand, dass die Menschen, die zu uns kommen, nie wieder gehen werden.
Wenn ich unsere Bewohnerinnen und Bewohner als meine lieben Alten oder Oldies bezeichne, schwingt darin mein ganzer Respekt für die vielen Lebensjahre mit, die sie gemeistert haben. Ich schätze die Arbeit mit Menschen am Lebensende. Im Angesicht des Todes sind sie verletzlich und unverstellt. Versagen wir uns das vorher nicht allzu oft?
Auf dem Weg zum Pflegedienstbüro nehme ich zwei Stufen auf einmal. Fahrradsachen aus, Pflegerklamotten an, im Pflegeplan checken, was heute Phase ist. Oh, man. Vicky ist krank, Helma hatte in der Nacht einen Schlaganfall. Und die Heizung fällt aus, obwohl der Krokus noch nicht mal blüht.
Vor meinen Augen stĂĽrzt ein schwarzer Vogel ab. Nicht wirklich, obwohl ich anfangs echt dachte, dass das passiert. Inzwischen bin ich den Streich gewohnt, den meine Augen mir spielen. Stresssyndrom, sagt der Arzt.
Zeitlosigkeit am Arsch. Das ist der Slogan meiner Realität.
Leseprobe aus: „Der beschissenste Traumberuf der Welt“, Kapitel 1, von: Imme Scheit
© Imme Scheit 2024-03-22