Lieblingskind

Jamal Tuschick

von Jamal Tuschick

Story
In der Gegend von Philippsthal an der Werra im osthessischen Landkreis Hersfeld-Rotenburg

Manchmal kommt Marion N., geschiedene Koyuncu, nach Kraichhain. Es gibt alte Verbindungen, Bekannte, Verwandte. Ihr Ex-Mann, der Unternehmer Adem Koyuncu, steht nie auf Marions Besuchsliste. Nora, die Ă€lteste Tochter der beiden, taucht stĂ€ndig im Kaff auf. Ihre beste Freundin ist die einzige Tochter des Paten von Kraichhain. Luciano Montana gibt den zupackend-herzhaften Gastwirt und hilfsbereiten Nachbarn. Er kann alles besorgen. Wenn Sie ihn morgens um zwei aus dem Bett klingeln, weil Ihr Keller unter Wasser steht, hat er die Pumpe schon gut gelaunt in der Hand. Seiner Umgebung erscheint er gleichermaßen tĂŒchtig und treuherzig. Seit einer Weile fĂŒhlt sich Nora auch zu Julias Bruder Jumbo hingezogen. Sie glaubt, dass ihre unbegrenzte Zugangsberechtigung im Reich der Montanas bei der Tarnung ihrer Absichten hilft. Die Vorstellung, Meister der Camouflage mit einem adoleszenten Repertoire hinters Licht fĂŒhren zu können, verfehlt die RealitĂ€t auf der ganzen Linie.

Familienleben in der GaststĂ€tte. Jumbo hat stĂ€ndig eine Hand in der Hose, als wĂŒrde ihm da sonst was fehlen. Der Ă€lteste Sohn des Kalabresen will bestimmt nicht unmanierlich erscheinen. Seine Posen sind ihm nicht bewusst. Er steht im Zentrum groß-familiĂ€rer Obhut wie ein Mastochse angepflockt vor einem NahrungsĂŒberangebot. Jumbo ist nicht nur fett und faul, er ist auch von milder GleichgĂŒltigkeit. Man hat ihn bis zur Formlosigkeit verwöhnt und seiner EigenstĂ€ndigkeit beraubt. Er verschluckt Laute, sodass die Leute raten mĂŒssen, was er gesagt haben könnte, bevor er es selbst vergisst. Nora stört das nicht. Sie trĂ€gt ein Kleid, das so sitzt, dass sie darin nicht vernĂŒnftig sitzen kann.  

Jumbo ĂŒbersieht Noras Interesse an seiner Person. Er fĂ€hrt lieber zur Casa della Chiocciola (Schneckenhaus), als sich den Belastungen einer festen Beziehung mit wiederkehrenden Verpflichtungen auszusetzen. Jumbo spĂŒrt Suchtdruck. Er braucht einen Schuss TV. Nicht, dass Sendungen im Nachmittagsprogramm ihn von Langeweile befreien könnten. Er ruft Luca, seinen jĂŒngsten Bruder, weil er zu faul ist, selbst nach der Fernbedienung zu angeln. Lucas Hilfsbereitschaft tarnt Gerissenheit. Er peilt die Lage mit einem Blick. Luca durchschaut Jumbo mit der Erbarmungslosigkeit eines kĂŒhlen Kopfes. Er erkennt und wĂŒrdigt das Potenzial seiner Eltern. Geld findet man im Haus der Montanas in jeder Ritze. Eis gibt es rund um die Uhr. Luca amĂŒsiert der trĂ€ge Sack, den Gott zu seinem Ă€ltesten Bruder gemacht hat. Das ist kein Gegner.

Adem kommt in die Trattoria, gerade als Nora an allen vorbeirauscht. Der GeschĂ€ftsbetrieb ruht noch, aber der PrivatbĂ€r tobt. Nora spricht noch mit ihrem Vater, zumindest erwidert sie seinen Gruß, anders als ihre Schwester Ella, die am Tourette-Syndrom zu leiden beginnt, sobald „der Erzeuger“ ihr begegnet. Adem verlangt regelmĂ€ĂŸig Entschuldigungen, die er nicht kriegt. Ella dreht vollkommen frei, sobald es um Adem geht. Jeder Versuch, sie einzuspinnen ins Vertraute und die alte Gemeinschaft wieder aufleben zu lassen, schlĂ€gt fehl. Ella sucht den Skandal. Angeblich belastet sie die Schande, von Adem abzustammen. Sie ist von Geburt an seine Lieblingstochter. Adem weiß, man soll kein Lieblingskind haben, und wenn doch, soll man es fĂŒr sich behalten.

© Jamal Tuschick 2024-04-23

Genres
Romane & ErzÀhlungen
Stimmung
Abenteuerlich
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