Lost place

Yeahlena

von Yeahlena

Story

Der erste Hafen, in dem wir während unserer wilden Reise auf der Saône übernachteten, war Scey-sur-Saône. An der Reception war niemand. Ja, es war Sonntag, aber in der Regel sollte jemand immer vor Ort sein. Wir schlossen den Strom an und nahmen uns vor, am nächsten Morgen wieder vorbeizuschauen.

Viel bot das Städtchen an Sehenswürdigkeiten leider nicht, nur ein Denkmal für die gefallenen Soldaten des Zweiten Weltkriegs. Viele Häuser waren dem Zerfall nahe. Als wir an einem Turm vorbeikamen, dachte ich unwillkürlich an Rapunzel. Das Dach war leider beschädigt. Der Blick durchs Fenster zeigte, dass eine Renovierung längst fällig war. Meine ältere Tochter sagte: „Hätte ich mal ein Atelier, so wünschte ich mir, es sähe so aus wie der Turm hier.“ Ein Künstleratelier, das wäre ganz nach meinem Gusto. Und sofort verfiel ich ein einen Tagtraum. Ein schickes Turmhäuschen, Staffelei, viele Leinwandbilder, die vielen Farben und Gerüche.

Zurück vom Spaziergang wollten wir eigentlich im nahe gelegenen Restaurant etwas essen. Aber die Saison war vorbei. Im Herbst gab es nicht viele Touristen. Das Restaurant blieb zu. Wir vertilgten zu fünft zwei Baguettes mit Aufschnitt und Käse. In der untergehenden Sonne tranken mein Mann und ich ein starkes Bier und planten die Route für den nächsten Tag. Die Kinder freundeten sich mit ein paar deutschen Kindern an, mit denen sie bis lange nach Sonnenuntergang im Hafen spielten.

In dieser Nacht hatte meine jüngere Tochter einen Alptraum und quetschte sich ins sowieso viel zu enge Bett zwischen meinem Mann und mir. Ich befürchtete, dass ich einen Infekt durchmachte, weil ich leichte Schmerzen im Rücken, in der Hüfte und in den Beinen hatte. Am nächsten Morgen gönnte ich mir zuerst mal einen Kaffee, nutzte das freie WLAN, um ein paar Fotos zu sichern, und dann ging es wieder los. Durch die Stille des Morgens glitten wir einsam dahin, umgeben von Vogelgezwitscher, sich spiegelndem Herbstlaub und Nebelschwaden. Ich fühlte mich wie auf dem Amazonas Frankreichs.

Wir machten Halt in Port-sur-Saône. Mein Mann suchte den nächsten Supermarkt auf, unser Sohn versuchte mit einer Baumnuss Fische anzulocken, die jüngere Tochter übte sich im Fotografieren mit der Spiegelreflexkamera und die ältere Tochter schrieb fleissig an ihrem Roman. Auf der Strasse lag der blutige Kopf eines Tiers (Katze? Kaninchen?). Natürlich mussten ihn die Kinder fotografieren. Der nächste Hund, der vorbeispazierte, schnappte sich das Ding. Wäh!

Unterwegs fuhren wir an einem Schloss auf einer kleinen Insel vorbei. Leider war der Anlegeplatz privat (was so nicht in unserem Reiseführer erwähnt war), sodass wir nicht halten durften. Uns blieb nichts anderes übrig, als die Insel zu umfahren und weiter nordwärts zu tuckern. Ich war sehr enttäuscht, denn es hätte wunderbare Fotos gegeben. Die verwilderte Insel, das leere Schloss, „lost place“. Der Ort könnte locker mit Tourismus und Schlossvermietung wieder belebt werden.

© Yeahlena 2022-11-08

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