von Jana Wagner
Langsam weicht die Nacht der aufgehenden Sonne. Es liegt ein kalter Nebel in der Winterluft, durchzogen von den ersten Lichtstrahlen. Über der Stadt erstreckt sich der klare Himmel. Die Straßen füllen sich mit Leben.
Durch den dünnen Vorhang am Fenster kriecht das Licht, dann ist eine Vibration zu spüren. Immer deutlicher kann Yuri sie wahrnehmen, bis es ihn aus dem Schlaf reißt. Er braucht einen Moment, um zu verstehen: Es ist sein Handy-Wecker.
Wie immer ist er spät dran und trotzdem lässt er sich Zeit. Zeit im Bad, Zeit beim Kaffee. Dann schlüpft er in seine Uniform, hängt seinen schweren Wintermantel über und schwingt sich aufs Fahrrad. Aus dem Westen der Stadt braucht er eine halbe Stunde ins Hotel. Einmal quer über den Fluss. Er arbeitet als Roomboy im Hotel “Tourist”. Nicht das erste Haus am Platz, aber immerhin hat es 3-Sterne vorzuweisen und ist mitten in der City. Seine Atemluft strömt wie kalter Dampf aus seinem Mund als er sein Fahrrad zu Höchstleistungen antreibt. Kurz vor acht kommt er keuchend in die Lobby. “Sorry Leute, ich mache mich gleich an den ersten Stock. Kommt nicht wieder…“ Yuri unterbricht seine tägliche Entschuldigungsfloskel. Die Lobby ist fast leer. Hinter dem Tresen steht Viktoria, allein.
„Es ist ruhig heute,“ sagt Viktoria. „Viele unserer Gäste haben ausgecheckt.” Yuri wundert sich: „Mitten in der Woche? Ich dachte, es wären alle Zimmer bis Sonntag ausgebucht?“ Viktoria zuckt mit den Schultern. Es war nicht ungewöhnlich, dass Gäste früher gehen, aber es war bei ihren Gästen, die hauptsächlich Korrespondenten, Journalisten und Geschäftsleute waren, eher unüblich.
Yuri war das ganz recht. Die Besorgnis im Gesicht seiner Kollegin konnte er nicht teilen. Er schnappte sich seinen Putzwagen und fuhr in den ersten Stock. Zimmer 100-150, dafür brauchte er bestimmt eine Weile. Ein Lied auf den Lippen putze, saugte und sortierte er wieder Ordnung in die Zimmer. Gegen 20 Uhr fuhr er runter. „Yuri, ist dir irgendwas aufgefallen?”, fragt Viktoria als er aus dem Fahrstuhl kommt. ,,Nein, nichts. Warum?“ Viktorias Blick war starr. „Alle Gäste haben ausgecheckt. Meinst du, es passiert was?“ Yuri konnte ihre Angst nicht teilen. Er war nicht der Typ für Sorgen. „Ach Vicky, das ist doch nur Panikmache. Lass den Fernseher heute aus, ja? Bis morgen!“ Er umarmte sie zum Abschied.
Auf dem Weg in seine Wohnung fiel es ihm dann doch auf: Leere Straßen in die eine, volle in die andere Richtung. Überfüllt geradezu. Er hauchte kalten Atem in die Luft und sah zum Himmel. Die kalte, klare Nacht zog auf. Yuri beschloss ebenfalls den Fernseher auszulassen. Er fällt müde ins Bett und bemerkte nicht, dass das Fenster offen stand. Plötzlich weicht die Nacht den Lichtstrahlen. Es liegt dunkler Rauch über der Stadt. Durch den Vorhang schießt ein grelles Licht, dann reißt ihn die Vibration aus dem Schlaf. Schutt und Staub hüllen ihn ein gefolgt von der Sirene. Er versteht sofort: Es ist Bombenalarm. Der erste, am 24. Februar in Kiew.
© Jana Wagner 2022-08-29