Ozean aus Tränen

Esther Wundsam

von Esther Wundsam

Story
2020 – 2021

Innere Leere. Nichts. Nichts fühlen, spüren, empfinden. Absolut nichts. Das Gefühl, keine Gefühle zu haben. Leere, innere mentale Leere. Auch das Herz ist leer und schwer. Es fühlt sich alles nach einem Hauch von nichts an. Gleichzeitig wie ein schwerer Stein, der auf die Brust drückt. So würde ich meine innere Leere während meiner depressiven Episode beschreiben. Nichts hat in mir etwas ausgelöst. Ich war wie eingefroren. In Schockstarre. In Schockstarre nach dem Tod meines Vaters.

Viel zu schnell wurde er aus dieser Welt gerissen. Viel zu jung war er auch. 60 kurze Jahre hatte er auf diesem Planeten. 20 davon mit meinem Zwillingsbruder und mir. Vater und Vorbild war er für meinen Bruder und mich. Fotografie, Autofahren und kritisches Denken sind Fähigkeiten, die ich von ihm gelernt habe. Ohne ihn wäre ich jetzt ohne Führerschein und würde wahrscheinlich naiv zu allem Ja und Amen sagen. Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist jedoch ein unberechenbares Monster und hat seine Muskeln Schritt für Schritt aufgefressen. Angefangen im Hals bis zu den Beinen, bis er schließlich weniger wog als ich. Haut und Knochen. Mehr war er nicht mehr. Ein Hirn hatte er auch noch, mit kritischem Denken. Diese Gedanken konnte er leider nicht mehr ganz so gut in Worte fassen. Die Muskulatur dafür fehlte. Unterhaltungen mit ihm waren interessant, aber zunehmend mühsam. Der Frust kam schneller als jedes Wort, das man zu verstehen versuchte. Verstand man ihn nicht, war das keine Tragik, aber frustriert hat es. Trotzdem bin ich für jedes Wort, das wir gewechselt haben, unendlichdankbar.

Abgesehen von der tückischen Krankheit, die meinen Vater heimgesucht hat, war es auch ansonsten nicht immer einfach. Nicht einfach zu verstehen, dass er von uns gehen wird. Nicht einfach einzusehen, dass es ihn nicht mehr hier bei uns geben wird. Nicht einfach zu akzeptieren, bald nur noch sein Grab besuchen zu können. Nicht einfach zu begreifen, ihn demnächst nur in Erinnerung rufen zu können. Nicht einfach zu realisieren, dass all dies 2020 bittere Realität wurde. Schockstarre. Schockstarre, das beschreibt meine Reaktion am besten. Ich konnte zwar weinen, aber überrissen habe ich es nicht. Bis heute nicht. Manchmal erwische ich mich dabei, ihn anrufen zu wollen oder zu überlegen, wann ich ihn das nächste Mal besuchen gehe.

Tränen flossen. Tränen, die wahrscheinlich Österreich einen Meerzugang verschaffen könnten. Unsere Nachbarländer wären versunken im Wasser oder die Küste zum österreichischen Ozean. Salzige Tränen, die Tag für Tag meine feuchten Wangen herunterkullerten. Solange, bis meine Tränendrüsen leer waren und ich schluchzend gefüllt mit Leere und Trauer herumsaß. Leere, die sich endlos anfühlte. Mein Blick auf den Ozean war mit Nebel bedeckt. Schwester Klaudia meinte zu mir: „Der Nebel wird sich lichten. Rufen Sie sich meine Worte immer wieder ins Gedächtnis.“ Diesem Rat versuchte ich zu folgen.

© Esther Wundsam 2022-01-31

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