von Lissi Winter
Als die Sonne untergegangen war, packten wir unsere Sachen zusammen und machten uns auf den Weg nach Hause. Über den Bergen, Wäldern und Feldern lag dieses wunderschöne Licht, das die Abenddämmerung einleitete. Fast bekam ich ein bisschen Lust, in die Blumenwiese zu springen und ein paar Fotos zu schießen, nur für mich. Blaue Stunde nannte man das. Perfekt um Fotos zu machen, das wusste ich von meinem Freund.
Exfreund.
Daran würde ich mich erst noch gewöhnen müssen. Irgendwie aufregend, ich hatte jetzt einen Exfreund. Anders als die meisten meiner Unifreunde, die entweder allein waren oder noch in ihren Abibeziehungen steckten. Wie ich, bis heute. Ich Rebell.
Als ich den Berg hinab über die Wiese rannte, fühlte ich mich so frei wie lange nicht. Ein bisschen wie Peter Pan, der keine Lust hatte, erwachsen zu werden. Die hatte ich auch nicht und heute war ein großer Schritt in die richtige Richtung.
Erst ganz kurz vor dem Gartentor bremste ich ab, meine Finger umfassten locker die Zaunstreben. Ich zog den schlammigen Metallhaken aus der Erde, um das Tor zu öffnen. Während das Auto an mir vorbeifuhr, musterte ich den Horizont. Es war verrückt: Seit es mich gab, hatte sich die Aussicht kaum verändert. Man könnte sich eingeengt fühlen, eingeschränkt in seinen Möglichkeiten, denn die Stadt war seit Jahren am Schrumpfen. Aber für mich fühlte es sich anders an. Als könnte man am glimmenden Horizont die Zukunft ausmachen. Wenn ich Peter Pan war, dann war das mein Nimmerland.
Mehr Abenteuer brauchte ich nicht, dachte ich, als ich mich auf den Rücksitz von Papas Passat fallen ließ. Er drehte die Musik ein bisschen lauter, die linke Hand am Lenkrad ruhend. Schweigend fuhren wir nach Hause, aber es war ein angenehmes Schweigen.
Die Fahrt dauerte nur fünf Minuten, dann parkten wir vor der Garage neben dem Haus. Die Jalousien waren heruntergezogen wegen der warmen Temperaturen um die Mittagszeit.
Drinnen im Flur stand noch meine Tasche, genau da wo ich sie vorhin abgestellt hatte. Die Szenerie war nicht hübsch, nichts, was man auf einem Foto festgehalten hätte. Trotzdem hatte ich Skrupel, etwas wegzuräumen: Die blaue OP-Maske, der Geldbeutel mit meinem Führerschein, das aufgerissene Taschentuchpäckchen. Als würde meine Entscheidung erst real, sobald ich etwas an diesem Stillleben änderte. Lächelnd schüttelte ich den Kopf über meine eigene Albernheit. Dann legte ich die Sachen in meine Tasche, packte das alte Leben weg, ein Leben, in dem ich einen Freund hatte. Da waren keine schlechten Gefühle, nur der Stolz, das endlich geschafft zu haben.
Ob jemand anderes dem nachtrauerte? Heute Abend noch Tränen vergoss? Wahrscheinlich. Aber es war trotzdem besser so, für uns beide.
Mit der Tasche unter dem Arm sprang ich die Treppe hinauf.
© Lissi Winter 2022-12-09