Schmiedeeiserne Glockenleuchte

Jamal Tuschick

von Jamal Tuschick

Story
Im badisch-schwĂ€bischen Grenzland zwischen Pforzheim und MĂŒhlacker

„Die Weisen sagen uns, dass das Muster des gesamten Universums 
 (deinem) Wesen eingeprĂ€gt ist 
 du bist das Ganze.“ Christopher Wallis

Ö
1994 – alles funktioniert noch, tut aber weh. Doris beherrscht das Yoga-Vokabular in jeder handelsĂŒblichen GrĂ¶ĂŸenordnung. Manchmal glaubt sie, von Úaktipāta aufgeschlossen worden zu sein.

„ƚaktipāta bezeichnet im Hinduismus die Übertragung (oder Verleihung) von spiritueller Energie auf eine Person durch eine andere oder direkt von der Gottheit.“ Wikipedia 

Dann ĂŒberkommen sie wieder Zweifel. Doris beobachtet die Luftspiegelungen ihres tĂ€glichen UnglĂŒcks am KĂŒchentisch ihrer Beinah-SchwĂ€gerin Renate. Mit dem Willen zur richtigen Aussprache spricht der Vater ihres LebensgefĂ€hrten Raimund Fremdwörter besonders falsch aus. Savoir-vivre ist ein Zungenbrecher. Savoir-vivre hat man nicht zu haben. Der Fisch aus der Konserve genĂŒgt nicht nur, vielmehr gibt es nichts Besseres nach dem Latrinen-Menetekel von „der schlechten Zeit“, die im Kopf des Witwers weitergeht, mit FeuerstĂŒrmen, Brandleichengestank und Hunger. Die Haltbarkeit von Lebensmitteln in BĂŒchsen ist ein unerschöpfliches Thema. Mit den Konservenbatterien in den Kellerregalen ĂŒberstehen wir jederzeit einen nuklearen Winter. Der Hering aus dem Glas und das halbe HĂ€hnchen aus dem Wienerwald sind nicht nur kulinarische Höhepunkte, sondern auch Hostien des Gedenkens an den ausgestandenen Hunger. Die grĂ¶ĂŸte Delikatesse ist das Kotelett mit Möhrchen-GemĂŒse, zubereitet von Raimunds Schwester, in dessen Haus der Greis sich allmĂ€hlich verkrĂŒmelt. Doris entdeckt Ähnlichkeiten zwischen Vater und Sohn, die sie aus der Fassung bringen. In der letzten Zeit verschleiert sich Raimunds Indolenz mit einem beinah bĂŒrgerlichen Auftritt. Raimund trĂ€gt die dezent weitergereichten Kurzarmhemden von Antons reichstem Schwiegersohn bis zur Fadenscheinigkeit auf. Tayfun Yıldız, verheiratet mit Doris‘ sportlichster Schwester Veronika, verkörpert die international renommierte, kardiologische KoryphĂ€e an der Spitze der Schwarzwaldklinik in echt. In seinem Kraichgauer Genesungsestablishment erscheint er wie eine osmanische Ausgabe des von KlausjĂŒrgen Wussow sĂŒffig verkörperten Professor Brinkmanns. Ein Leben in Weiß. Der gebĂŒrtige Istanbuler gibt den Weltmann in Schwaben. Spießig findet er geil. Deutsche Provinz, deutsche Autos, deutsches Bier; das GlĂŒck im Winkel der ReihenhaushĂ€lfte mit JĂ€gerzaun und schmiedeeiserner Glockenleuchte ĂŒber der HaustĂŒr. Das restaurierte MilchhĂ€uschen. Die Wiederbelebung dörflicher Gemeinschaftsbacktraditionen. WochenmĂ€rkte und HoflĂ€den. Gelangweilte Hausfrauen in Hotpants vor antiken EiscafĂ©s. Tayfun besitzt diese V-KragensouverĂ€nitĂ€t, die man sich nicht einfach abgucken kann. Ihn erregt es zuverlĂ€ssig, in seinem 1963er-Porsche 901 (ab 1964 911) die Landstraße direkt unter dem Bodenblech zu spĂŒren. Von dem Oldtimer (mit einem luftgekĂŒhlten Sechszylinder-Boxermotor) wurden bis zur Umbenennung lediglich zweiundachtzig Exemplare verkauft. Wer weiß sowas ĂŒberhaupt noch?

© Jamal Tuschick 2024-05-13

Genres
Romane & ErzÀhlungen
Stimmung
Abenteuerlich
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