von Henrike Vogel
Ich setzte meine Schutzbrille auf. Die Maske hatte ich bereits im Nacken festgeknotet. Sie lag so eng an, dass sie mir ins Fleisch schnitt. Man hätte all diejenigen, die nach draußen gingen, an den blauen Flecken und vernarbten Striemen im Gesicht erkannt. Aber wann sah man schon fremde Menschen ohne Maske? Meine hatte ich in fünfter Generation geerbt. Mein Ururgroßvater wollte nicht akzeptieren, fortan eingesperrt zu sein. Er bezahlte seine Sturheit mit seinem Augenlicht und einem frühen Tod. Seine Schutzmaske war nicht gut genug gewesen. Mein Urgroßvater starb beinahe, als er vier Tage alt war. Seine Mutter geriet an einem windstillen Tag in eine auffrischende Böe. Mein Großvater erlaubte seiner Frau erst gar nicht, rauszugehen. Die Frauenrechte waren verloren, als es plötzlich um das Fortbestehen der eigenen Blutlinie ging. Mit einer beschädigten Lunge überstand eine Frau keine Hausgeburt. Mein Vater stellte die Maske und die Schutzkleidung schließlich fertig.
Heute war es weder windstill noch regnete es. Das Atmen fiel mir schwer. Ich bewegte mich langsam. Es geht um ein Virus, denkt ihr? Nein. Ihr habt euch sicher mindestens einmal an Papier geschnitten. Eine zunächst unscheinbare Wunde, kaum sichtbar, ein unerwarteter Schmerz. So tötete er, der Wind.
Nicht Mikroplastik, auch nicht der Ultrafeinstaub oder die Nanopartikel haben dazu geführt. Selbst die Piko- und Femtotechnologie schufen nicht diese Welt. Wir türmten Teilchen auf Teilchen, bis der Turm kippte. Der Mischmasch an ihnen im Wind zerriss unsere Lungen, zerstörte die Netzhaut, zerrieb und zerfetzte nach und nach alles, was mit ihm in Kontakt kam. Schleichend wohl, aber wer wollte qualvoll sterben?
Ich nahm meinen üblichen Weg, wollte rüber zum alten Simon. Er hatte seinen stickigen Supermarkt mit den vielen Schleusen noch nie verlassen und war blass wie ein Laken. Wie meine Frau und meine Tochter, aber daran wollte ich jetzt nicht denken. Die Welt draußen war zu schön, um sie nur durchs Fenster zu betrachten. Einen einzigen schmalen Ausschnitt.
Dann sah ich sie. Ein Mädchen, so alt wie meine Tochter. Sie trat aus einem verlassenen Haus. Ohne Maske. In einem bunt getüpfelten Kleid. Mit bloßen Knien. Der Wind hielt den Atem an. Ich stürzte los.
Sie riss die Augen auf. Der Windstoß fegte ihr die Haare ins Gesicht. Ich schubste sie in den Flur, verrammelte die Tür. Suchte sie ab, blutete sie? Hatte sie eingeatmet? Ich traute mich nicht, sie abzutasten.
„Hey“, sagte sie. „Was soll das?“ -„Du darfst so nicht raus“, antwortete ich. „Wieso? Und warum siehst du so komisch aus?“ Wusste sie denn gar nichts? -„Die Luft, der Wind schneidet dich“, stammelte ich. „Achso.“ Sie lachte. „Keine Angst. Der riesige Staubsauger von der reichen Frau hat die Luft saubergemacht.“ War sie eine der Reichen? Gab es durchsichtige, hauchdünne Schutzfilter? „Komm mit.“ Sie nahm meine Hand und trat nach draußen. Schloss die Augen in der Brise. -„Wann?“ Sie stutzte. -„Wann hat dieser Staubsauger die Luft saubergemacht?“ Sie runzelte die Stirn. „Da musst du meinen Papa fragen. Er sagt, da war Opa noch ein Baby.“
© Henrike Vogel 2023-05-18