von Ramony
Ich liebte es zu reisen und ich hasste es auch gleichzeitig – denn ich wusste, dass ich mindestens einmal meine Mutter verlieren würde und dieser Verlust tat jedes Mal aufs Neue weh. So war es auch diesmal – 2 Stunden taumelte ich wie verloren umher, ging immer wieder den gleichen Weg ab und machte mich damit wahnsinnig, denn: Genau an diesem Busch war ich vor 20 Minuten gerade erst vorbei gekommen! Warum sieht hier alles so anders aus, als ich mit meiner Mutter hier entlang gegangen bin? Ich konnte es nicht fassen, kam nach kurzer Zeit oben an, nur um mich dann wieder auf den Weg nach unten zu begeben. In den gleichen Irrsinn wie zuvor. Was ich hier beschreibe, ist die traumatischste Reise, die ich je unternommen habe. Oder zumindest: die ich miterleben musste. Denn sie ist eine Kindheitserinnerung an den Schwarzwald. Erinnerungen knüpfen sich an Orte; Orte geben neue Möglichkeiten für Erinnerungen. Ich bin ein Mensch, der schon seit der allerersten Erinnerung in dieser schwelgt. Ich bin im wahrsten Sinne des Wortes eine Erinnerungssammlerin. Ich merkte früh, dass alles, was ich erlebe, bald ins unterbewusste Gedächtnis rutschte und wenn man es nicht herausholte, diese Erinnerungen wie fragile Seifenblasen noch im Unterbewusstsein platzten. Diese Seifenblasen möchten, damit sie länger halten, durch einen Luftstrom ins bewusste Gedächtnis hinaufgestrudelt werden, mit einer neuen Schicht Seifenlauge ausgestattet werden. Wer eine Seifenblase mal eine längere Zeit beobachtet hat, weiß, was ich meine. Keine Seifenblase hält ewig. Die meisten zerplatzen schon auf ihrem Weg, zerplatzen, weil der Wind sie gegen einen Gegenstand geweht hat oder schlichtweg, weil sie auf dem Boden ankommen. Manchmal zerplatzen Seifenblasen auch einfach so – Als Kind habe ich mich dann gewundert, aus welchem Grund so eine Seifenblase kaputt geht. War sie nicht stabil genug oder war da etwas in der Luft, was ich nicht sehen konnte, was sie doch zum Platzen brachte? Ich bin ehrlich, ich habe bis heute keine genaue Antwort darauf. Die wahrscheinlichste und naheliegendste Annahme liegt darin, dass die Oberflächenspannung der Seifenblase nicht groß genug war. Und auch heute ist die Seifenblasen-Forschung noch nicht fortgeschritten genug, um mir dieses Mysterium zu erklären. Ich bin also ein Mensch, der versucht, Seifenblasen aufzubewahren, sie mit einer neuen Schicht Seifenlauge zu überziehen und dann nach Möglichkeit sortiert abspeichern möchte. Bei den Erlebnissen, die wir tagtäglich machen, gar nicht so leicht. Und tatsächlich erreichen nur wenige der Erlebnisse im Alltag auch wirklich den Status der Erinnerung, da wir sie sonst für zu unbedeutend halten. Erinnerungen brennen sich also auch am meisten ein, wenn sie etwas Besonderes darstellen. Wie ich jedenfalls aus meiner verzwickten Situation von damals herauskam, blieb mir bis heute in Erinnerung: Nach meinen 2 Stunden im Wald umherwandeln, kam ich auf die Idee, zurück zum Berggipfel zu gehen. Ein Unterfangen, das man doch sonst nicht in Erwägung ziehen würde, da man ja davon ausgehen würde, zum Startpunkt zurückzukehren: zum untersten Punkt des Aufstieges des Berges. Und mit welchen Gefühlen ich dann meine Mutter am Gipfel des Berges wiedertraf, habe ich über all die Jahre nicht vergessen.
© Ramony 2023-08-22