von Erdim Özdemir
Ich kannte sie nicht anders. Sie kannte es nicht anders. Inmitten der Allee stand sie. Den Blick wandte sie stets nach links. Dann nach rechts und wieder links. Und erst wenn sie der einzige Mensch auf der leerbefahrenen Straße gewesen ist, wechselte sie die Seite – das ungeschriebene Gesetz für Kinder, die Straße überqueren zu dürfen.
In ihren Händen klimperten immer ein 50-, 20-und 10-Cent-Stück, mit denen sie stolz zum Kiosk auf der anderen Straßenseite hüpfte. Und an manchen Samstagen in der Früh, meistens vor 12 Uhr, wusste ich auch, wieso sie die 80 Cent immer bei sich trug. Sie brauchte eine Briefmarke und warf Umschläge in den Briefkasten auf dem Weg zum Bolzplatz. Für einen Jungen aus ihrem Heimatort, für ihre Familie vielleicht, grübelte ich stets.
Beinahe jedes Wochenende verschickte sie Briefe.
Wir wurden älter. Es wurde uns egaler, ob die Straße leer war. Sie überquerte sie immer, sodass sie den Autos knapp entkam. Draufgängerisch. Pubertät ist, wenn dein Körper abartige Neugierde am Erwachsenwerden zeigt. Wir sprangen mitten in den Pool der Veränderungen.
Keine fünf Sekunden und der Körper sieht anders aus.Keine fünf Sekunden und die Stimme ist eine Tonleiter tiefer. Wie eine Chemiekeule auf zwei Beinen wandeln wir und drohen, jederzeit zu explodieren.
All diese Veränderungen – doch wer will sie? So stark wie wir uns wehren, gewähren wir ihnen so leicht Eintritt in unser Leben. Insgeheim sehen wir sie uns herbei, aber klammern an längst Vergangenem – wie sie an ihren 80 Cent in ihrer festen Faust. Mit der Zeit waren es dann auch manchmal Geldscheine, für die Biere für einen Sundowner am Hafen.
Während wir erwachsen wurden, warfen wir uns nur stumme Blick zu. Hin und wieder ein unangenehmes Lächeln, so oft wie wir aufeinanderstießen. Man war zu sehr mit seinen eigenen Veränderungen beschäftigt, um noch an denen anderer teilzuhaben. Stattdessen flogen meine Gedanken stets zu ihren 80 Cent.
Und mit 15 Jahren war ich als Spätzünder dran, zum Kiosk zu gehen. Einen Brief für meine Eltern. Wahrscheinlich Versicherungskram. Ich nahm 80 Cent aus der Kleingelddose und stolzierte zum Kiosk. Briefmarke kaufen, auf den Umschlag kleben und ab in den Briefkasten. Das dachte ich zumindest. Daher übermannte mich Verwunderung, als ich sah, dass ich mir all diese Schritte sparen konnte. Ich konnte alles direkt dort verschicken.
Irgendwann sah ich sie immer weniger. Weder wie sie die Straße überquerte noch Briefe einwarf. Das Mädchen mit den Briefmarken verschickte sie wohl direkt im Kiosk, nahm ich an.
Einmal sah ich sie noch am Briefkasten – ihre Familie beschloss in ihre Heimat zurückzukehren. Den pubertären Stolz und die Nervosität schluckte ich waghalsig herunter.
Wieso kaufst du immer Briefmarken und verschickst die Briefe nicht im Kiosk?
Sie lachte. Wahrscheinlich verwirrt.
So macht man es bei mir in der Heimat, sagte sie.
Gewohnheiten legen wir selten ab. Entweder sind wir zu faul oder wir halten an ihrer Bedeutung fest.
© Erdim Özdemir 2021-09-27