von Michele
„Glaub mir, ich vermiss dich nicht. Hab dich so geliebt, aber ich find, ohne mich siehst du einfach so hässlich aus.“
Ich schreie dieses Lied von Ayliva mit voller Inbrunst, als wäre ich die Songschreiberin und mein Ex der Mann, über den sie singt. Doch das ist er nicht. Als Ayliva diesen Song veröffentlichte, hatte ich eigentlich keinen Grund, ihn so zu fühlen – und doch tat ich es.
Das ist die Magie von Musik. Sie wirkt wie ein Spiegel unserer Emotionen. Psychologisch betrachtet dient Musik als Verstärker: Wenn wir traurig sind, greifen wir instinktiv zu Songs, die diesen Schmerz widerspiegeln. Wir suchen nach Verständnis, nach etwas, das unsere Gefühle ausdrückt, wenn uns selbst die Worte fehlen. Laut meinem Spotify Wrapped müsste ich allerdings das ganze Jahr über nur traurig gewesen sein. Na gut, vielleicht stimmt das – teilweise. Mein Herz war ein paar Mal gebrochen, meine Playlist hat es nur zu gut widergespiegelt.
Meine Top-Künstler? Jessie Murph, Ayliva, Lune, Madeline Juno, Billie Eilish. Allesamt starke Künstlerinnen, deren Texte sich wie ein Stich ins Herz anfühlen – und trotzdem kann ich nicht aufhören, sie zu hören. Es ist fast, als würde ich Herzschmerz fühlen, den ich gar nicht erlebt habe. Beim Hören von Liedern über Verlust und Schmerz fühlt man sich den Künstlern unglaublich nah. Ihre Worte scheinen direkt aus der eigenen Seele zu stammen.
Doch hier wird es interessant: Studien zeigen, dass traurige Musik unsere Wahrnehmung beeinflussen kann. Sie verzerrt die Realität. Selbst wenn die eigene Situation objektiv nicht so schlimm ist, fühlen wir sie durch die Musik intensiver. Also war es vielleicht doch nicht ganz so dramatisch, als dieser Typ mich emotional in den Abgrund gestoßen hat? Sicher, er war toxisch, und ich hatte eine Panikattacke – aber vielleicht hat Billie Eilish die Dunkelheit noch ein wenig schwärzer gefärbt.
Es gibt wissenschaftliche Belege dafür, dass Musik unser Denken über Liebe und Beziehungen beeinflussen kann. Besonders Texte über toxische Beziehungen können unser Bild von Liebe verzerren. Sie glorifizieren den Schmerz, lassen uns glauben, dass Herzschmerz ein unvermeidbarer Teil der Liebe ist. Wie oft habe ich bei einem Song innegehalten und gedacht: „Ist das auch meine Realität? Ist das meine Liebe?“
Vielleicht habe ich unbewusst die Inhalte dieser Lieder auf mein eigenes Liebesleben projiziert. Es klingt verrückt, aber Songs, die wir immer wieder hören, können wie Affirmationen wirken. Sie prägen, wie wir über Beziehungen denken – und fühlen. Positiv wie negativ.
Am Ende bleibt die Frage: Ist mein Musikgeschmack schuld an meinem Liebeschaos? Oder liebe ich einfach nur Songs, die Geschichten erzählen, die ich nicht selbst erleben möchte? Vielleicht beides. Aber eines weiß ich: Musik begleitet uns durch alle Höhen und Tiefen der Liebe – und manchmal singt sie die Worte, die wir selbst nicht aussprechen können.
© Michele 2025-01-11