Spielzeug fĂŒr Erwachsene

Jamal Tuschick

von Jamal Tuschick

Story

Die gesamtdeutsche Provinz bleibt bis auf Weiteres ein unterschĂ€tzter ErzĂ€hlraum. Dabei ist sie im Osten wie im Westen ein Eldorado des ungeheuren Alltags in all seinen Spielarten. Ab und zu ĂŒbersteigt die lĂ€ndliche ZukunftsfĂ€higkeit das urbane Maß. Interessant sind WochenmĂ€rkte, Dorffeste – und CafĂ©s in allen Schattierungen der freihĂ€ndigen Gestaltung. Ich nenne noch die FlĂŒsterfilialen des Einzelhandels fĂŒr den gehobenen Bedarf im Spektrum zwischen Spirituosen, Keramik und Gewebtem. In diesem von EnttĂ€uschungen verschrammten Rahmen darf die Boutique fĂŒrs Intime nicht fehlen.

Uta Bretschneider und Jens Schöne beginnen ihre Recherche im sĂ€chsischen Oschatz. Da ist der „Sexshop besser ausgeschildert als das Rathaus“. Die Inhaberin hat das GeschĂ€ft – gemeinsam mit einem Schreibwarenladen – von ihren Eltern ĂŒbernommen. In ihren Einlassungen triumphiert die Sachlichkeit.

Uta Bretschneider, Jens Schöne „Provinzlust. Erotikshops in Ostdeutschland“, mit Fotografien von Karen Weinert und Thomas Bachler, 221 Seiten, Ch. Links Verlag, 35,-

Das Angebot unterliegt gleichwohl Diskretionsgeboten. Die Kundschaft verlĂ€sst das GeschĂ€ft mit neutral-blickdichten TĂŒten. BewĂ€hrte VertrauensverhĂ€ltnisse zur Stammkundschaft gehören zum kleinstĂ€dtischen Survival Kit.

Die Autor:innen haben sich auch im Westen und in ostdeutschen GroßstĂ€dten umgesehen, die schönsten Geschichten verbinden sich aber mit SchauplĂ€tzen in Brandenburg und Sachsen, die wie halbwegs aufgegebene Vorposten einer krĂ€nkelnden Zivilisation dem unbefangenen Durchreisenden das GefĂŒhl einer Geisterbahnfahrt geben. Es grĂŒĂŸen Gespenster der Wiedervereinigung.

Die Autor:innen registrieren kaum merkliche AusschlĂ€ge eines Nachbebens der „Transformationszeit“ – unmittelbar nach 1989 im Zuge des „nachholenden Konsums“. Sie machen journalistische Abstriche und analysieren GemĂŒtsgewebeproben. Manche „FachgeschĂ€fte fĂŒr Ehehygiene“ gleichen Zeitkapseln. Sie konservieren Stimmungen aus einer Boom-Ära, die 1995 endete. Bis zu dieser ZĂ€sur bildeten alle Alters- und Berufsgruppen Schlangen vor den Sexshops.

Bretschneider und Schöne spĂŒren das obsolete Flair im „Erotik-Eck“ von Aschersleben auf. Da existiert ein Rotlichtviertel in der GrĂ¶ĂŸenordnung einer provisorisch aufgemöbelten Ruine. Man erzĂ€hlt den Autor:innen von einst rasend florierenden Sex-Kinos in umgewidmeten Wohnzimmern.

In einem frei stehenden Haus bewahrt Wolfgang Heidler ein Mix aus Aquaristik und Sexspielzeugen vor der Pleite. Die Gehöft-Idylle prĂ€gt eine Vergangenheit als Kaninchenzuchtanlage in den Ausmaßen eines DDR-Familienbetriebs. Ein Foto zeigt den Laden mit dem euphorisch-improvisierten Interieur der 1990er Jahre. Die nostalgische Patina ĂŒberlebt in einer Randlage zwischen Herzberg und Falkenberg im SĂŒden Brandenburgs.

© Jamal Tuschick 2024-03-13

Genres
Lebenshilfe
Stimmung
Abenteuerlich