Der Morgen fing harmlos an: Ich schlürfte meinen zweiten Kaffee, hatte gerade Ernest – meinen stacheligen Kaktus-Confidant – enthusiastisch angequatscht (»Ernest, heute knacken wir die 1.000 Wörter-Marke!«), da flatterte eine E-Mail rein. Betreff: »Dein großartiger Plot im Online-Magazin ›Wer schreibt, der bleibt‹«.
Ich klickte fast schon ehrfürchtig – und mein Herz machte einen Purzelbaum. Dort stand in fetten Lettern eine Kurzgeschichte, die ich vor sechs Monaten in einem verschlafenen Café skizziert hatte: dieselben Charaktere, dieselbe Wendung, sogar derselbe Cliffhanger. »Inspiriert von …«, hieß es unschuldig.
»Ernest«, flüsterte ich und stupste den Kaktus an, »das ist kein ›Inspiriert von‹. Das ist geklaut!«
Ich rief Max an. Er hob nach dem dritten Klingeln ab, schlief vermutlich noch in seinem Jogginganzug. »Alter, du klingst panisch.«
»Max, geh auf das ›Wer schreibt, der bleibt‹-Online-Magazin. Lies mal Seite 4.«
Er machte es direkt: »Ich lese … oh Mann. Das ist deine Szene mit der vergessenen Zugfahrt und dem Pudel, der dir hinterher jault, weil er dein Eis haben wollte!«
Also doch. Ich legte auf, stampfte durchs Zimmer und starrte Ernest an, der stoisch stachlig vor sich hin grinste. »Was soll ich tun? Anschwärzen? Mich rar machen? Auch Ideen klauen?«
Ich beschloss, einen Schritt zurückzutreten. Erstmal ausprobieren, wie sich die Story unter meinen Fingern anfühlt, wenn ich sie neu denke. Vielleicht war der Dieb ja nur ein Zufallsprodukt – jemand, der zufällig meine Story-Vorlage mochte und unbewusst kopierte.
Am Nachmittag traf ich Max im Straßencafé. Er kam mit seinem Skateboard angebraust, setzte sich, sah meine gequälte Miene und reichte mir einen Espresso. »Reden wir Tacheles. Entweder du klärst das juristisch, oder du verdoppelst deine kreative Power.«
Ich nahm die Herausforderung an: Statt mich auf den Dieb zu fixieren, verlegte ich meine Energie in neue Ideen. Ich schrieb fünf Szenenskizzen auf Servietten: einen Chatbot, der Liebesbriefe verpatzt, eine alte Bibliothek voller singender Bücher – die ganze Palette.
Plötzlich klingelte mein Telefon: Eine freundliche Redakteurin vom Magazin. Sie entschuldigte sich kleinlaut, gestand, man habe intern die Autorennamen durcheinandergebracht. Die Kurzgeschichte stamme von einer Praktikantin namens Lina, die meine Vorlage nur als privaten Entwurf in ihre Cloud geladen hatte. Der Verlag werde den Fehler umgehend korrigieren und Lina berichtigen.
Ach was für eine Erleichterung. Zufrieden sammelte ich meine Servietten ein und schlenderte mit Max nach Hause.
© Kreative-Schreibwelt 2025-06-04