Heute war der Tag. Ich hatte mir alles vorgenommen: früh aufstehen, Kaffee, Laptop auf, und dann mindestens 2.000 Wörter schreiben. Ich wollte fokussiert, diszipliniert und produktiv sein – also quasi das Gegenteil von mir selbst.
Um 9:00 Uhr saß ich tatsächlich am Schreibtisch. Dokument geöffnet. Cursor blinkte. Kapitel 12 sollte endlich weitergehen. Meine Hauptfigur stand in einer dramatischen Situation. Ich hatte nur keine Ahnung mehr, warum. »Komm schon«, murmelte ich, »du hast das doch geplottet.« Ich öffnete das Notizendokument, das mir helfen sollte. Leider war es leer bis auf den Satz: »Kapitel 12: irgendwas mit Emotionen.« Ich starrte den Bildschirm an. Er starrte zurück.
9:15 Uhr. Ich stand auf, um mir einen Kaffee zu machen. Dann fiel mir auf, dass der Wasserkocher verdächtig staubig war. Ich putzte ihn. Und den Toaster. Und – irgendwie war es plötzlich wichtig – auch die Fensterbank.
9:40 Uhr. Zurück am Schreibtisch. Ich tippte »Sie sah ihn an und …« – und fragte mich dann, ob ich meine Socken mal nach Farben sortieren sollte. Ich meine, wer lebt bitte mit einem Haufen bunter Einzelsocken in der Schublade?
10:30 Uhr. Die Sockenschublade war eine farbcodierte Oase. Ich war stolz. Ich hätte ein Pinterest-Board damit füllen können. Schreiben? Ach ja.
»Ernest«, sagte ich, während ich mich wieder setzte, »warum ist der Drang, nicht zu schreiben, immer dann am größten, wenn ich schreiben will?«
Ernest, der Kaktus, schwieg. Wahrscheinlich schrieb er heimlich selbst einen Bestseller.
11:00 Uhr. Ich war wieder bereit. Laptop an, Kaffee frisch. Ich öffnete das Dokument, sah den Satz »Sie sah ihn an und …« und klickte dann auf YouTube. Nur kurz. Ein Video über Origami-Elefanten.
11:50 Uhr. Ich konnte jetzt immerhin eine Serviette in einen mittelmäßig traurigen Kranich falten.
Max rief an. »Na, wie läuft’s mit dem Manuskript?«
»Großartig«, log ich. »Ich hab neue Methoden zur Charakterentwicklung entdeckt.«
»Du meinst Origami?«
Ich hasse es, wenn Max meine Internet-Aktivitäten errät.
12:15 Uhr. Ich beschloss, eine Pause zu machen. Kreative Prozesse brauchen Raum. Und frische Luft. Und manchmal eben auch eine sortierte Sockenschublade und streifenfreie Fensterbänke.
Als ich am Abend wirklich anfing zu schreiben, war ich plötzlich drin. Die Worte flossen.
Vielleicht bin ich also kein fauler Autor. Vielleicht bin ich ein Meister der kreativen Aufwärmphase. Ein Prokrastinations-Profi. Und das ist doch auch irgendwie … eine Art Talent, oder?
© Kreative-Schreibwelt 2025-07-16