von MISERANDVS
Am alten Baume, dort, wo der Flieder schwer die Luft mit Süße füllt, dort sagt man, wohne die Tränenfee. Man sagt, sie sei eine alte, gebeugte Erscheinung, gehüllt in Lumpen. Ihre Hände wären zerschlissen, sagt man, ihr Haar schlohweiß, und ihre Augen so tiefklar wie der Ozean. Und wer traurig ist, der solle dorthin gehen, sagt man, damit die Tränenfee einem eine Träne schenkt. Diese würde jedes Leid lindern, so sagt man.
„Tränenfee! Tränenfee!“, so ruft der betagte Mann, der vor dem alten Baume steht. Er blickt sich um, ob ihn auch niemand sähe. „Tränenfee! Wenn es dich gibt, so zeige dich mir!“ Und er fasst mit seiner Hand die raue Rinde des alten Baumes.
„Was rufst du mich, du frecher Knabe?“, hört er eine rasselnde Stimme, und eine steinalte Frau erscheint wie aus dem Nichts.
„Bist du die Tränenfee?“, fragt der alte Mann.„Ich bin, wer ich bin, Eduard.“, spricht die Frau: „Was führt dich zu mir?“„Du kennst meinen Namen?“„Ich kenne jeden Namen. Also?“„Tränenfee, ich… ich habe eine Bitte. Schenke mir eine Träne!“„Ach, Eduard, gleich mit der Tür ins Haus? Meine Tränen sind rar. Und sie sind nicht umsonst.“„Was willst du für deine Träne haben?“„Erzähle mir, Eduard, eine Geschichte. Erzähle mir … Deine Geschichte. Und wenn sie mich rührt, Deine Geschichte, dann sollst du eine Träne bekommen.“
„Nun, …“, setzt Eduard an, als er sich auf den Boden setzt, den Rücken an den alten Baum gelehnt, und er erzählt seine Geschichte. Er erzählt von seiner Frau, von Antje, die er so unwahrscheinlich geliebt hat. Er erzählt, wie sie sich kennenlernten, und er erzählt von den Kindern. Wie schön sie waren, und wie stolz er auf sie war. Und er erzählt, wie sie ihm genommen wurden. Und seine Hände liegen zitternd ineinander, als die Erinnerung ihn packt.
Dann blickt er auf die alte Frau.Sie sieht in die Ferne.„Nur zu!“, spricht sie monoton.
Und Eduard erzählt, von seiner Liebe zu Antje. Wie sie mit den Jahren immer stärker wurde. Wie sie sich mehr und mehr ineinander verliebten mit der Zeit. Und er erzählt, wie schön Antje wurde mit den Jahren. „Schöner, schöner als jeder neue Morgen.“, beschreibt Eduard seine Antje, und seine Augen strahlen. „Und eines Tages, eines Morgens, an einem wunderschönen Morgen, da war meine wunderschöne Antje gegangen.“, spricht Eduard. „Sie ist zu meinen Kindern gegangen, meine wunderschöne Antje. Und sie hat mich zurückgelassen. Und ich vermisse sie. Ich vermisse sie jeden Tag, jeden Morgen. Ich spüre ihre Liebe. Ich spüre die Liebe meiner Kinder … von drüben. Manchmal, da höre ich, wie sie spielen und lachen, wenn ich nicht einschlafen kann. Und ich höre, wie meine Antje meinen Namen flüstert im Dunkeln. Tränenfee, sie fehlen mir so sehr, meine Kinder und meine Antje. Die Sehnsucht zerreißt mich.“
[…]
© MISERANDVS 2022-01-06