Trypanophobie

HelgaP

von HelgaP

Story

Die nächste Patientin zur Blutabnahme ist jung. Als ich die Idenditätsprüfung mache sehe ich : 20 Jahre. Nachdem sie Hand in Hand mit ihrem Vater in den Raum getreten ist, hätte ich sie für noch jünger geschätzt. Der ca 45- jährige Vater fängt an, mir wortreich zu erklären, dass bei seiner Tochter besondere Umstände für die Blutabnahme zu beachten wären. Sie hätte schreckliche Angst vor Nadeln.

Mit einem Polster von jahrzehntelanger Übung und Erfahrung nicke ich verständnisvoll und spreche beruhigende Worte.

Die junge Dame zieht ihre Jacke aus und ich denke zuerst an eine optische Täuschung. Doch nein- ihre beiden Arme sind über und über mit Tattoos in verschiedenen Größen und Farben bedeckt. Mir liegt die Frage auf der Zunge, wie sie dann diese Tätowierungen mit Nadelphobie über sich ergehen lassen konnte? Ob sie keine Angst vor gifthaltigen Farben, verfärbten Lymphknoten oder Verbrennungen bei einem eventuell notwendigen MRT habe?

Lasse es aber, da ja für die Abnahme nicht relevant und lege die Röhrchen bereit. Als ich den Stauschlauch anlege höre ich ein beunruhigendes abgehacktes Schnaufen der Patientin. Ich murmle beruhigende Laute, fühle die Vene ohne Probleme, desinfiziere, warte kurz und will die Nadel ansetzen. Mit einem jammervollen Aufbäumen fährt die junge Frau aus dem Sessel hoch und hängt wie ein gespannter Bogen seitlich so weit von mir weg, wie sie nur kann.

Weitere beruhigende Worte von mir, von ihrem Vater. Ein Schlückchen Wasser zur Beruhigung- beim zweiten Versuch wieder das gleiche Szenario.

Ich bitte zwei Kolleginnen zu Hilfe damit der Patientenarm fixiert werden kann. Ich möchte ihr nicht mit der Nadel den Arm zerkratzen, wenn sie sich wieder auf die Seite wirft. Ich will mir selbst auch eine Stichverletzung ersparen.

Doch beim neuerlichen Versuch ist der Arm zwar fixiert, aber das Wehklagen der Patientin erreicht eine Dezibelhöhe, der wir uns geschlagen geben müssen. Tinnitus als Arbeitsunfall will vermieden werden.

Beruhigendes Zureden meinerseits- ob ich noch ganz empathisch geklungen habe, hoffe doch bezweifle ich.

Anfragen bezüglich der Notwendigkeit einer Blutabnahme können weder vom Vater noch von der Tochter klar beantwortet werden. Auch die anfordernde Stelle ist nicht erreichbar.

Neuerlicher Versuch – alles vergeblich. Der Kampf der Patientin, mit dem sie der Nadel entweicht, ist wild und todesmutig. Nach weiteren unergiebigen Versuchen verweigere ich. Ich will weder diese junge Frau noch mich selbst verletzen.

Zufrieden steht das Persönchen auf, zieht ihre Jacke an und stolziert hocherhobenen Kopfes aus dem Raum. Ihr Vater zuckt hilflos die Schultern und geht ihr nach. Meine Kolleginnen und ich sehen uns an. Die Stille im Raum tut gut.

© HelgaP 2021-11-21

Hashtags