von Bine
Es passiert zuweilen, dass ich nicht beschreiben kann, was mir an einem Menschen gefällt. Ich kann nicht in Worte fassen, was genau ihn anziehend macht.
Manchmal sind es Details. Ein voller Mund, große Augen, die dazu passende Brille, eine wohlüberlegte Kleidungswahl. Viel öfter ist es etwas anderes.
Schön in Erinnerung bleibt mir ein Mensch, wenn er lächelt und eine verschmitzte Neugierde sich dabei über sein ganzes Gesicht verbreitet. Wenn er offen ist, vor Lebensfreude übergeht und seine Augen blitzen, sobald er von seinen Plänen erzählt. Wenn er etwas hat, was sein Herz höher schlagen lässt, wenn er leidenschaftlich berichtet von dem, was der Tag bringen könnte.
Manche Menschen sind schön, weil sie gütig sind. Weil ihr Gegenüber weiß, dass sie alles tun würden, um ihn glücklich zu sehen. Andere Menschen sind schön, weil sie ganz da sind, zuhören und dem Erzählenden den Raum geben, zu einem schönen Menschen zu werden.
Es gibt Menschen, deren Schönheit nicht fassbar ist. Ihnen verleiht ein unerklärlicher Umstand eine anziehende Aura. Sie haben mitunter ein Geheimnis, sie sind mehr als das, was ein flüchtiger Blick auf sie verrät. Möglicherweise fallen sie eher in die Kategorie interessant. Interessantes finde ich schön.
Andere Menschen bezeichnen wir als schön, weil sie kleine Nasen, lange Beine, flache Bäuche und keine Narben im Gesicht haben. Ihre Schönheit ist die flüchtigste. Sie macht einen Menschen nur dann schöner, wenn er auch auf mindestens eine andere Art schön ist.
Es ist schwierig für mich, einen Menschen, den ich nicht sonderlich mag, als schön zu bezeichnen. Er kann gut aussehen. Aber was heißt das schon. Er kann dem gängigen Schönheitsideal entsprechen. Schön macht ihn das alleine nicht. Umgekehrt kann jemand diesem Ideal ganz und gar nicht entsprechen und dennoch ein Gefühl hinterlassen, einem wunderschönen Menschen begegnet zu sein.
Wen genau meint die Sozialwissenschaft, wenn sie davon spricht, dass schöne Menschen erfolgreicher sind im Leben? Meint sie die mit dem richtigen Body Mass Index? Oder die mit einem Gesicht, das dem goldenen Schnitt entspricht. Bestimmt ist es wahr, dass solche Normen vorteilhaft sind für einen Werdegang. Aber wieso ist es wahr? Wieso maßen wir uns an, etwas so Großes wie die Schönheit eines Lebewesens auf so kläglich wenige Oberflächlichkeiten zu reduzieren? Weil wir es gelernt haben? Weil es uns immer wieder vorgekaut und vorgeführt wurde?
Was fand Frau Neandertaler an Herrn Neandertaler schön? Das diesbezügliche Fachwissen habe ich nicht. Vermuten kann ich nur, dass sie den angehimmelt haben muss, der stark genug war, mit ihr zusammen eine Höhle zu sichern und für genug Essbares zu sorgen. Ob ein schiefe Nase da relevant war?
Schön ist für mich der Mensch, der mich ein Stück begleitet und mir dabei Freude macht. Ganz kurz, in einem flüchtigen aber inspirierendem Gespräch. Oder den ganzen Rest vom Leben, weil er das Schöne in mir sieht und ich das in ihm.
© Bine 2022-08-07