Wunsch

Anna-Maria Noller

von Anna-Maria Noller

Story

„Was wünscht du dir für das neue Jahr?”

Schweigen.

„Hast du Wünsche?”

Achselzucken. „Was bringen die denn schon? Wünsche … Das sind doch auch nur Träume, die nie in Erfüllung gehen werden.”

„Das hältst du also von Wünschen?”

Sein GegenĂĽber blickte zur Seite auf den Boden.

„Das ist, was du dir einreden willst.” Der Psychiater lehnte sich in seinem Stuhl nach vorn. „Weil du Angst hast, enttäuscht zu werden.”

Das junge Mädchen schaute ihn nur starr an. „Sie wissen doch gar nicht, wie es ist, enttäuscht zu werden.”

„Wieso bist du dir da so sicher? Weil ich Psychiater bin?”

„Weil Sie alles haben. Alles, was Sie brauchen. Alles, was Sie wollen.”

„Denkst du so?”

Erneut wandte das Mädchen ihren Blick ab.

„Das ist, was du in anderen sehen willst.” Ihr Psychiater lehnte sich zurück. “Jeder Mensch hat Wünsche. Jeder Mensch braucht Wünsche. Sie treiben uns an.” Er machte eine kurze Pause und beobachtete seine Patientin. „Kannst du mir folgen?”

„Das ist doch alles Blödsinn!” Wutentbrannt sprang das junge Mädchen plötzlich auf und stürmte aus der Praxis.

Wünsche … So ein Schwachsinn!

Ihr wurde alles genommen, was sie liebte. Welche WĂĽnsche sollten sie antreiben?

Draußen war es bereits dunkel geworden. Alles war ruhig. Nur ihr leises Schluchzen hallte in der Nacht. Der kühle Wind hinterließ eisige Spuren ihrer Tränen.

Wenige Minuten später gelangte das Mädchen an eine breite Brücke. Erschöpft lehnte sie sich an die Brüstung. Unter ihr ein reißender Fluss, dessen Wasser genauso schwarz war wie die Dunkelheit, die sie umgab.

Wünsche … Ihr Wunsch …

Sie wollte Frieden. Frieden fĂĽr sich.

Es soll einfach alles stillstehen.

„Lasst mich in Frieden”, wimmerte sie fast lautlos.

Sie stieg über das Stahlgeländer. In einem auf den anderen Moment könnte es vorbei sein.

Der Griff um das kalte Geländer lockerte sich.

„Lasst mich einfach in Frieden. Das wünsche ich mir.”

© Anna-Maria Noller 2022-05-08

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