Zuckerwatte

Gino Dola

von Gino Dola

Story

Leider habe ich vergessen, Kind zu sein. Jeden Tag, den ich erwachsen war, habe ich es verlernt. Ich bin jetzt groß. Ich lebe ein Leben, das von den Menschen um mich herum akzeptiert wird, vollkommen gesellschaftskonform. Ich meide schlechtes Wetter. Wenn es mich ĂŒberhaupt nach draußen zieht, dann nur mit meinem Regenschirm. Ich möchte einen rosafarbenen Regenschirm, aber ich habe einen dunkelblauen. Ich bin schließlich kein Kind mehr, noch dazu ein Mann. Ich freue mich auf den Sommer. Jeder freut sich auf den Sommer, die heißen Sonnenstrahlen. »Nein!«, schreit das Kind in mir, »Ich hasse den Sommer, die Hitze, das grelle Licht, das mich frĂŒhmorgens aus dem Schlaf reißt.« NatĂŒrlich lege ich mich frĂŒh schlafen, ich brauche wie jeder andere Mensch meine acht Stunden Schlaf. »Nein!«, schreit das Kind in mir, wenn ich mich morgens um drei ins Bett lege und nur wenige Stunden spĂ€ter um sieben zur Arbeit fahre. Ich bin ein Nachtmensch. Der Tag ödet mich an! Menschen, Stimmengewusel, grelles Licht. Ich genieße die Zeit im Winter, fange Schneeflocken mit meiner Zunge und lausche der dumpfen, stilleren Welt. Ich freue mich ĂŒber Eis und Schnee, ĂŒber dunkle Tage, an denen das Gewitter ĂŒber meinem Kopf grollt. Ich liebe es, barfuß durch den Regen zu laufen. Doch ich hasse die Blicke, die dann auf meinem Körper liegen, als hĂ€tte ich etwas an mir, das nicht normal ist.

»Was ist normal?«, fragt das Kind in mir. Als Kind war all das normal. Jeder lĂ€chelte mich an, wenn ich barfuß durch PfĂŒtzen sprang, allein beim Anblick von Zuckerwatte strahlte. Nur weil ich jetzt groß bin, darf ich das nicht mehr? Weil ich jetzt erwachsen bin, mache ich das alles nicht mehr? Man fĂ€hrt nicht einfach vierhundert Kilometer ans Meer, um einen Kaffee zu trinken, sagen die Großen. Kaffee gibt es auch zu Hause. Doch, sagt das Kind in mir und wĂ€rmt sich die HĂ€nde an dem heißen Kaffeebecher, wĂ€hrend mein Blick ĂŒber das endlose Meer schweift. Wie kann schlechtes Wetter toll sein, fragen mich die anderen. Wer hat eigentlich entschieden, was gutes oder schlechtes Wetter ist? Ich fĂŒhle mich wohl, wenn es regnet oder schneit, die Luft so kĂŒhl ist, dass meine Haut ein wenig spannt, meine Ohren rot glĂŒhen.

Das Kind in mir schreit: »Kauf das jetzt, es ist bunt!« Ich schĂŒttele den Kopf. Das brauche ich nicht. Vor nicht allzu langer Zeit stellte das Kind in mir eine Frage: »WĂ€rst du traurig, wenn du jetzt deinen letzten Atemzug machst, oder hast du dein Leben geliebt?« Ich fĂŒhlte, wie das Blut in mir einfror und sich nur noch zĂ€h durch meine Adern schob.

»Mach das jetzt einfach, du möchtest es doch schon so lange«, tobt das Kind in mir. Ich schĂŒttele den Kopf. Das geht nicht. Ich bin erwachsen, habe Verpflichtungen. Was sollen die anderen denken? Mit einem Mal schmerzt jeder Atemzug, pulsiert in meiner Brust. Ich höre die HerzschlĂ€ge des Kindes in mir. Sie werden leiser. Ich renne los, springe barfuß in jede PfĂŒtze, halte meinen rosafarbenen Regenschirm stolz ĂŒber mich und zeige ihn der Welt. Ich lasse alles los, kaufe das kleine, bunte Windrad, das sich unaufhaltsam dreht. Es macht mich glĂŒcklich. Mir ist egal, was die anderen denken. Wenn ich an meinen letzten Atemzug denke, will ich auf mein Leben zurĂŒckblicken und lachen.

Das Kind in mir lacht: »Und jetzt kauf uns Zuckerwatte.«

© Gino Dola 2024-05-07

Genres
Romane & ErzÀhlungen
Stimmung
Abenteuerlich, Emotional, Unbeschwert