Jeden Tag sitzt es in seiner Ecke, das Lesewesen, der Lesebandwurm, der gierig Wort um Wort verschlingt, Buchstaben vertilgt und seine spitzen Zähne in die blassgelben Seiten gräbt.

Dabei sieht es ganz harmlos aus, wie es da jeden Tag in seiner Ecke sitzt, ein Buch auf dem Schoß, den safrangelben Schal über Mund und Nase gezogen. Nur gelegentlich, bei ganz genauer, aber zaghafter Betrachtung - denn es ist doch wirklich leicht zu verschrecken - sind zwei blassblaue Augen zu erkennen, die, stets dem schmalen Finger folgend, der in raschem Tempo von Zeile zu Zeile wandert, die Seiten überfliegen. Es sind sehr schöne Augen, sehr stille Augen, denn ein Lesewesen, wie jeder weiß, lebt nur halb in dieser Welt und es ist nun einmal nicht leicht, so zweigeteilt zu sein.

Dabei hat es so viele Worte, die es unserer Welt schenken kann, so viele Worte von so vielen Reisen in unzähligen Ländern. Worte, die die Welt erzittern lassen, die beben, die schlingern, die sich von links nach rechts neigen und zurück, die unaufhaltsam Gebirge durchdringen, Bäume entwurzeln und Mauern einreißen, die sanft im Wind schwingen, die Flügel ausbreiten und in höchster Höhe über uns hinwegfliegen, Worte, die sich gegenseitig jagen, die Krieg und Frieden spielen, die der Welt die Farben nehmen, sie zu Grau verblassen lassen, um ihr ein größeres Spektrum zurückzugeben, viele Worte in vielen Sprachen, bekannte und unbekannte und das Lesewesen kennt so viele von ihnen.

Trotzdem sitzt es nur jeden Tag still in seiner Ecke und frisst neue Wörter in sich hinein, bis sein Hunger gestillt und seine Neugier befriedigt ist, aber wie lange das dauert, das weiß wohl niemand.

Denn obwohl das Lesewesen am Abend wieder verschwindet, sein Gesicht mit Nase und Mund hinter dem safrangelben Schal verborgen, die linke Hand in der Manteltasche des kirschroten Parkas vergraben, die Rechte ein Buch fest umgreifend, das die Fingerknöchel der schlanken Hand weiß hervortreten, taucht es doch am nächsten Tag, verlässlich wie es ist, wieder auf und beginnt, an einem neuen Buch zu nagen.

Es ist kostbar, das kleine Lesewesen, der Lesebandwurm, der jeden Tag in seiner Ecke sitzt und Wort um Wort verschlingt, und wenn man es doch einmal ganz nett darum bittet, erzählt es bestimmt die eine oder andere Geschichte.