00:00 Spiegelscherbensplitter

CarolinaCaldo

von CarolinaCaldo

Story

Manchmal, da verschwimmt die Welt vor meinen Augen. Sie füllen sich mit bitteren Tränen und ich schaffe es nicht, sie wegzublinzeln. Es sind einfach zu viele, zu schwere. Mit jedem Wimpernschlag verteile ich die salzige Flüssigkeit über das Briefpapier, auf den Brief, den ich dir schreibe. Die schwarze Tinte verschmiert sich und lässt unordentliche Flecken zurück. Ich blicke in den runden Spiegel auf dem alten Sekretär und erkenne ähnliches auf meinem Gesicht. Die dunklen Rückstände meiner Mascara ziehen sich über meine Wangen, fast wie Tarnstreifen, nur dass sie das Gegenteil bewirken. Ich bin jetzt nicht mehr unsichtbar, ich falle auf. Weil ich gefallen bin. Kann ich mich noch spüren? Oder bin ich gerade dabei, mich zu verlieren? Ich strecke vorsichtig meinen Finger zum Spiegel, um mich zu berühren. Mein Bild. Die virtuelle Version von mir. Ich fahre langsam über mein Ebenbild, da beginnt der Spiegel zu rollen, wie die Stützräder meines alten Fahrrads. Langsam, aber sicher, stabil, aber doch wackelig. Ich sehe ihm zu, tue nichts um ihn aufzuhalten. Lasse ihn gehen, so wie ich mir gewünscht hatte, gehen zu können, damals als ich nicht mehr bleiben wollte. Ich erschrecke nicht, als er zu Boden fällt und in abertausende Fragmente zerbirst. Der Aufprall klingt wie ein spitzer, verzweifelter Schrei. Ich fühle nichts. Ich betrachte mich in all den Scherben. Sie sind so unbedeutend und so klein. Ich versuche, die Perspektive zu wechseln. Stelle mir vor, alle meine Probleme sind kleine, scharfe Splitter. Ich sehe sie glitzern in den Sonnenstrahlen, wie die Sterne des Nachthimmels. Schmecke die Tränen und lasse mich von ihnen ans Meer erinnern, als ich auf einem Pferd im Sonnenuntergang durch den Atlantik ritt. Ich bewege mich nicht, lasse mich blenden, denke an die schönen Momente, vergesse all die negativen. Ich zwinge den Pessimisten in mir, das Steuer an den Optimisten weiterzugeben, oder gar auszusteigen. Doch die zwei streiten sich heftigst. Beide verlassen mich, zurück bleibe ich, der Realist.

Ich nehme mir die größte Scherbe vom Haufen. Halte sie vorsichtig in meinen Händen, bedacht darauf, mich nicht zu schneiden. Ich betrachte sie wie eine Wolke und versuche ihre Form zu entschlüsseln. Sie erinnert mich an einen kleinen Regenschirm. Ich stelle mir vor, wie er mich vor Unwettern schützt und mich trocken hält, auch wenn die Regentropfen nur so prasseln. Ich verbringe noch einige Minuten länger inmitten der Spiegelscherbensplitter und schenke ihnen all meine Aufmerksamkeit. Nachdem ich noch ein bisschen weiter philosophiert habe, setze ich mich auf. Die Tränen sind getrocknet. Ich habe mich beruhigt. Erneut nehme ich den Stift in die Hand. Ich weiß aber, dass ich dir noch nicht schreiben kann. Vielleicht irgendwann, aber nicht jetzt. Ich stehe auf und gehe. Aber nur um den Kerwisch zu suchen.

© CarolinaCaldo 2022-03-04

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