#08: Rigorosum

mario_nathan

von mario_nathan

Story

Es ist ein wunderschöner Nachmittag im Mai. Auf der Dachterrasse unseres Instituts gibt es etwas zu feiern. Und ich? Ich bin so betrunken, dass ich mit einem Pizzastück in der Hand fast einschlafe. Wie es so weit gekommen ist?

Eine liebe Kollegin hatte ihr Rigorosum. Eine Doktoratsverteidigung wie im Bilderbuch: Der Hörsaal war voll, ihre Präsentation war interessant und trotzdem für Laien verständlich, die Fragen der Prüfer beantwortete sie brillant. Ich gönne es ihr von ganzem Herzen. Einfach, weil ich weiß, dass das auch komplett anders ablaufen hätte können.

Mein Rigorosum fiel in meine letzte Arbeitswoche an der TU Wien. Es war eine Besenkammervorlesung. Immerhin waren mehr Kollegen als Prüfer da. In der Kommission saß der Dekan, der mich als FH-Absolvent nur widerwillig zum Doktorat zugelassen hatte. Ich musste damals meiner Anmeldung zum Doktorat einen relativ jungen Beschluss vom Verwaltungsgerichtshof beilegen, um ihn zu überzeugen. Was mich jedoch am meisten verletzte, und das wurde mir erst Jahre später am besagten Nachmittag auf der Dachterrasse bewusst, war, dass damals keine Zeit war, mein Rigorosum zu feiern und zu genießen.

Es war nicht nur meine letzte Arbeitswoche, es war auch gleichzeitig das Ende eines dreijährigen EU-Forschungsprojekts. Am Vormittag des nächsten Tages begann das Projektabschluss-Meeting. In Ljubljana. Das hieß für mich: Prüfung ablegen, anstandshalber mit Sekt anstoßen, in die Wohnung, packen, nach Hause fahren, mit der Familie essen, weiter nach Ljubljana fahren. Ein Bier mit Kollegen ging sich in Ljubljana vor der Sperrstunde trotzdem noch aus.

Geschlaucht vom zweitägigen Meeting und vom schweren Abschied von den Wiener Kollegen fuhr ich heim. Zu Hause angekommen, wurde ich nachdenklich. In dem ganzen Stress hatte ich fast vergessen, dass ich mein Doktorat abgeschlossen hatte. Acht Jahre Studium. Wofür? Für einen Titel? Das Doktorat sollte der Höhepunkt sein, es sollte gefeiert werden, aber mir war nicht nach Feiern zumute. Ich fühlte nichts.

Leere.

Hat sich das gelohnt? Hat sich mein Leben bis jetzt gelohnt? Ich habe mein ganzes Leben mit Schule und Studium verbracht. Wofür? Ich bin ein arbeitsloser Akademiker, der wieder bei seiner Mutter wohnt. Und dafür habe ich mein Leben lang mein Privatleben hinten angestellt? Ich zweifelte sogar daran, ob das überhaupt meine Idee war oder ob ich einfach nur das gemacht habe, was andere von mir erwartet haben. Würde ich mit meinem Orchideenthema als Doktorat überhaupt jemals eine Arbeit finden? All die Arbeit und die Belohnung ist Leere. Leere und Selbstzweifel.

Was ich damals noch nicht wusste: Der Zustand „arbeitsloser Akademiker“ würde nur eineinhalb Monate anhalten.

© mario_nathan 2021-04-10

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