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Lukas Stock

von Lukas Stock

Story

Wenn ich gefragt werde (und das werde ich noch heute oft) an was ich mich als Erstes erinnern kann, dann kommt mir immer dieser eine Morgen im Mai 1974 in den Sinn. Michael saß wie immer am Frühstückstisch und hatte die Zeitung aufgeschlagen. Er hielt es für eine Tradition uns jeden Morgen laut aus dieser vorzulesen, wobei er stets seine eigene Meinung zu bestimmten Themen zum Besten gab. Oft blickte er mich bei einem seiner Ansicht nach besonders gelungenen Kommentar prüfend über den Rand der Zeitung an, wie um sich zu versichern, dass ich seinen Witz auch verstanden hätte und lachte. Ich tat ihm den Gefallen und lächelte stets zurück, während ich das Frühstück für ihn und Stanley, unseren gemeinsamen Sohn von 13 Jahren, zubereitete. Meistens hörte ich gar nicht richtig hin, ich ließ meinen Blick aus dem Fenster der Küche über unseren Vorgarten auf die Straße schweifen, dachte manchmal an Becky, meine beste Freundin und ihre ausschweifenden Männergeschichten, an die nachlassenden schulischen Leistungen von Stanley, manchmal auch einfach an nichts. Dann schreckte ich jedes Mal zusammen, wenn Michael bestimmt nach mir rief und mich vorwurfsvoll anschaute. Früher tat mir das immer ein wenig leid, zu dieser Zeit aber hatte sich etwas verändert und ich hätte lügen müssen, wenn ich sagen würde, dass ich die Kränkung, die er dabei empfunden haben, musste wirklich ernst nahm. Mittlerweile empfand ich es eher wie ein stummes Mahnmal zwischen uns: ein Zeichen der Entfremdung. Dieses Gefühl war natürlich nicht von heute auf morgen da. Es schlich sich ungefähr zwei Jahre vor den nachfolgenden Ereignissen schleichend in unsere Routine ein, es überkam mich immer öfter dann, wenn ich aus dem Fenster blickte und den Kindern auf dem Weg zur Schule hinterherschaute oder gedankenverloren unseren akkurat getrimmten Lorbeerbusch an der Grundstücksgrenze betrachtete. Michael war anders, distanziert, als würde eine Mauer zwischen uns stehen. Ich wollte es nicht wahrhaben, wollte die kleinen Zeichen übersehen – die scharfen Blicke, das Schweigen bei Tisch, die späten Nächte allein. ‚Etwas hat sich verändert.‘, stellte ich eines Tages mit einiger Enttäuschung fest. Zunächst machte mir dieses Gefühl Angst und ich verdrängte es mit aller Kraft. Irgendwann musste ich jedoch feststellen, dass etwas was man wirklich fühlt nicht einfach auszublenden ist. Immer wieder ertappte ich mich dabei wie ich dem Gefühl nachgab und mich in der Unsicherheit und dem Unwohlsein, welches es mit sich brachte, quasi suhlte. Weder meine erzkatholische Erziehung, noch meine begrenzten Lebenserfahrungen haben mich darauf vorbereitet und so fand ich mich mit einem Mal auf der Suche nach etwas, von dem ich nicht wusste, was es sein sollte. In diesen Momenten ging alles wie automatisch: Ich wusch das Geschirr, faltete die Wäsche, während leise Lieder aus den 50ern im Radio liefen. Meine Gedanken wanderten zu meiner Mutter. Hatte sie jemals so gefühlt? Wenn ich Becky davon erzählte, winkte sie ab. Sie hatte ständig einen neuen Liebhaber und für ernste Gespräche selten Zeit. Meine Mutter dagegen war eine stillschweigende, starke Frau. Unser Vater war 1944 im Krieg verschollen, und wir – meine beiden Schwestern und ich – wuchsen allein bei ihr auf. Sie sorgte dafür, dass uns nie etwas fehlte, doch Gefühle zeigen? Das lag ihr fern. Manchmal wünschte ich mir, damals jemand gehabt zu haben, bei dem ich mich hätte aussprechen können.

© Lukas Stock 2025-05-28

Genres
Spannung & Horror