von Davide Goldner
Er saß vor dem Laptop und rührte sich nicht. Während die Hände auf der Tastatur lagen, starrten die Augen wie gebannt auf den blinkenden, senkrechten Strich auf dem Bildschirm. Schließlich musste er blinzeln, sodass er aus jenem tranceartigen Zustand erwachte. Der Mann stand auf und strich sich durch das Haar. Warum fiel ihm nichts ein? Seit Wochen grübelte er an einem geeigneten Anfang für sein erstes Buch.
Der Mann war ein ehemaliger Universitätsprofessor für Griechisch gewesen, dem jedoch nach jahrzehntelangem Übersetzen der Texte anderer Schriftsteller plötzlich der Wunsch aufgekommen war, selbst etwas zu schreiben. Aber was? Das war die Frage, die ihn nun seit mehreren Wochen beschäftigte. Er wollte eine wichtige Geschichte schreiben, wie seine griechischen Vorbilder. Seine Geschichte sollte einen guten Anfang haben – einen, den man nicht so schnell vergisst – wie bei Herodot oder Homer.
Eigentlich wäre der große Platon über die Absicht des Altphilologen nicht besonders erfreut gewesen, da dieser behauptet hatte, dass die wirklich wichtigen Dinge nie aufgeschrieben werden müssten. Aber sollte man einem Philosophen wie Platon Glauben schenken, der so viel der Nachwelt hinterlassen hatte? Nein, eher nicht. Apropos Platon – der Mann dachte einen Moment lang nach und setzte sich wieder – und wenn er über ihn eine Geschichte schreiben würde? Sofort schüttelte er den Kopf. Unmöglich: Er war viel zu bedeutend und die Kritik hätte Hackfleisch aus ihm gemacht oder seine ehemaligen Kollegen an der Universität. Aber – schnell rief sich der Griechischdozent einige Themen ins Gedächtnis, worüber Platon geschrieben hatte – er hätte etwas über den Eros schreiben können. Nicht nur; er hätte über die Liebe ganz allgemein geschrieben. Ach was: über die ‚Lieben’, denn die Griechen unterschieden mehr als zehn Arten.
Von plötzlicher Begeisterung und herkulischer Lebenskraft ergriffen, stürzte sich der Altphilologe wieder auf die Tastatur und begann hektisch loszutippen. Nach fünf Minuten blickte er auf und las sich den Anfang seiner ersten Geschichte durch:
„Was war am Anfang? Die einen glauben, dass der Anfang durch einen Knall verursacht wurde, die anderen hingegen, dass ein Urstoff der Anfang von allem gewesen sei – aber keiner meint denselben Urstoff. Im Mythos steht, dass anfangs das Chaos geherrscht habe und dass dann der Kosmos, die Ordnung, eingetreten sei. Die Christen behaupten, dass im Anfang das Wort gewesen sei, aber Goethes Faust übersetzte das Wort ‚logos’ mit ‚Tat’, da laut ihm der Anfang etwas Dynamisches war. Manche fragen sich sogar, ob nicht der Anfang das Nichts war. Ich behaupte, dass am Anfang die Liebe war. Denn die Liebe offenbart sich uns Menschen tagtäglich und in allen möglichen Formen: mal in Form des Hasses, mal der Obsession, mal der Menschlichkeit, mal der Freundschaft und, mal der Begierde. Ja, am Anfang war eine Kraft, ein Urstoff, ein Wort und eine Tat – und das war die Liebe“.
© Davide Goldner 2021-08-13