von Eliah Kleines
Die Beerdigung war bereits vorbei, als Onkel Erwin auf mich zugehumpelt kam. Vor dem heutigen Tag hatte ich ihn nur ein einziges Mal gesehen, und selbst da nur auf einem schäbigen Gruppenfoto, das er meinen Eltern von einer falschen Adresse mit der Post hatte zukommen lassen. Zehn Leute waren darauf zu sehen, fünf Frauen in der vorderen Reihe, dahinter fünf Männer, Onkel Erwin ganz rechts mit einem verhaltenen Grinsen. Jung war er auf dem Foto, und alt sah er nun aus, wie er an diesem sonnigen Nachmittag auf mich zukam. Sein Gesicht brannte sich sofort in mein Gedächtnis ein mit seinen markanten Merkmalen – aufgeblasene Wangen, Augenringe und ein beunruhigendes Funkeln im linken Auge; das rechte Auge war aus Glas, wie mir sofort auffiel. Der schwarze Anzug saß ihm trotz ordentlichen Bauchumfangs perfekt. Er bahnte sich nur langsam seinen Weg durch die Menschenmenge am frischen Grab, obwohl er humpelte hatte er keinen Gehstock. Dieser Mann strahlte etwas Bedrohliches aus, eine innere Größe weit jenseits der Dinge, die ich in meinem Leben bislang erlebt hatte. Sein intaktes Auge, so spürte ich instinktiv, hatte Unvorstellbares gesehen.
Was ich von seiner Anwesenheit halten sollte, wusste ich nicht. Eingeladen war er nicht, denn obwohl es meine Mutter – seine Schwester – war, die beerdigt wurde, wusste niemand, wo er sich aufhielt. Dass er also kommen würde, hatte niemand geahnt. Auch kommen gesehen hatte ihn niemand! Erst vor wenigen Minuten, als ich in ein trockenes Gespräch mit einem Gast verwickelt war, bildete sich scheinbar zufällig eine Lücke in der Menschenmasse, durch die ich ihn urplötzlich sah. Erst nur als ein Schemen aus dem Augenwinkel, dann drehte ich meinen Kopf in seine Richtung, um die plötzliche Ahnung zu bestätigen. Mein Gesprächspartner, dem meine mangelnde Aufmerksamkeit übel aufstieß, verließ mich bald, und ich konnte konzentriert den Neuankömmling fixieren. Bald hätte ich ihn nicht erkannt, aber auch wenn er dicker und älter war, trug er doch nach wie vor jenes verhaltene Grinsen, das ich nur aus der Fotografie kannte.
„Das ist dein Onkel!“, hatte mir meine Mutter erklärt, als wir vor vielen Jahren die seltsame Post erhalten hatten. „Onkel Erwin ist das. Er ist ganz weit weg und macht sehr wichtige Dinge für die Regierung.“, dabei schaute sie immer wieder in mein Gesicht, als wollte sie überprüfen, ob ich ihr auch folgen könnte. Damals war ich acht Jahre alt, und meine Mutter hatte Erfolg: Auch heute noch erinnerte ich mich genau an das, was sie sagte. „Onkel Erwin ist mein Bruder, er ist zwei Jahre älter als ich.“ Eine kurze Pause. „Wir haben uns seit sieben Jahren nicht mehr gesehen.“ Kurz darauf ließ mich meine Mutter alleine mit dem Foto sitzen, aus dem Nebenzimmer hörte ich sie leise schluchzen und den halbherzigen Versuch meines Vaters, sie zu trösten. Noch lange saß ich dort und starrte auf dieses schon damals veraltete Bild.
Ich war eigentlich zu dem Schluss gekommen, dass Onkel Erwin schon lange gestorben sein musste, warum sonst sollte er sich 20 Jahre nicht melden, nicht blicken lassen? So wollte ich ihn eigentlich heute mit meiner Mutter zusammen begraben. Durch puren Zufall hatte ich das Foto in meiner Hosentasche vergessen, anstatt es in das Grab zu werfen, und jetzt hielt ich es wieder in der Hand. Onkel Erwin war beinahe bei mir. Das kommende Gespräch würde interessant werden.
© Eliah Kleines 2024-09-11