1 – Das Meer Erblüht

Das Riff verschwamm vor Flos Augen, als sie mit geschmeidigen Flossenbewegungen an den schillernden Korallen vorbeizog. Die junge Meeresprinzessin bot einen atemberaubenden Anblick. Ihre braunen Haare flossen wie flatternde Algen hinter ihr durch das Wasser. Ihre olivbraune Haut, die immer wieder von weinroten Schuppen durchzogen wurde, glänzte im gelegentlichen Schein einer Tiefseelaterne. Die Kiemen an ihrem Hals waren von demselben Rotton und von dort schlängelten sich ihre Schuppen in künstlerischen Spiralen abwärts. Sie bedeckten ihre Brüste und verdichteten sich ab ihrer Taille zu einer wunderschönen, kraftvollen Schwanzflosse. Mare Floret, wie ihr offizieller Name lautete, trug das royale Rot mit eben soviel Anmut und Selbstbewusstsein wie ihre Mutter.

Momentan war die junge Meerfrau auf dem Rückweg zum Palast. Sie hatte im Auftrag der Königin eine sensible Nachricht an einen der Außenposten nahe Bermuda übermittelt. Nun schwamm sie zielstrebig heimwärts. Die nordatlantischen Gewässer waren für diese Jahreszeit ungewöhnlich warm und mit besorgter Miene registrierte die Meeresprinzessin die geringe Anzahl von Fischschwärmen, die ihr begegneten. Der durch die Menschen verursachte Klimawandel und die Überfischung der Meere zeigten in den letzten Jahrzehnten immer schwerwiegendere Konsequenzen. Flo ließ ihren Blick nach oben schweifen. Sie sah nichts als tiefblaues Wasser, doch sie wusste, dass in etwa 2000m über ihr die Wasseroberfläche lag. Die mysteriöse Welt der Menschen. Die Welt, die von Ihresgleichen so verhasst war, vor der sie sich verstecken mussten. Die per Gesetz als verboten galt und die Flo trotz allem so sehr faszinierte.

Sie ließ eine kleine Seegraswiese hinter sich und passierte dann den ersten steinernen Torbogen, der zum Palast führte. Auf dem dahinterliegenden Platz jagten zwei junge Meerkinder eine Moräne zwischen den bunten Korallen umher. Einige Schildkröten zogen ihre Kreise um die malerischen Mamorskulpturen vergangener Herrscher des Atlantiks, die den runden Vorplatz des Meerespalastes zierten. Verschiedenste Fische tänzelten zwischen Anemonen und Xenien und ein Schwarm Seepferdchen schwebte über dem Riff. Flo winkte den Kindern zu und schwamm dann mit einem Nicken in Richtung der beiden Wachposten durch den zweiten Torbogen. Dahinter herrschte reges Treiben. Meerleute aus dem indischen Ozean hatten Stände mit Stoffen, Salzen und Naschereien auf dem großen Vorplatz aufgebaut. Zahlreiche Atlantiker schwammen umher, um sich die besten und feinsten Stoffe zu sichern, die nur hier alljährlich bei dem großen indischen Markt angeboten wurden. 

Die Prinzessin war kurz versucht, sich in das Treiben zu stürzen und selbst ein wenig in den internationalen Waren zu stöbern, doch sie war in offizieller Funktion unterwegs. Wie eigentlich immer in den letzten paar Monaten. Mit einigen wenigen Schlägen ihrer Flosse überschwamm sie den Markt. Sie wandte sich nach rechts, weg vom Haupteingang des Palastes und hielt auf eine unscheinbare Tür am Rand des Gebäudes zu. Sie warf einen letzten, sehnsüchtigen Blick nach hinten, bevor sie die Tür öffnete und hineinschwamm, um ihrer Mutter Bericht zu erstatten.