von Moritz Rauter
„Die Welt ist ein einziger ernstgemeinter Witz!“, denkt sich Lotte selbstüberzeugt und kann sich nicht entscheiden, ob sie ihre zutiefst lächerlich wirkenden Mundwinkel eher versucht nach oben anzuheben oder nach unten zu befördern. Sie entscheidet sich schlussendlich für keine der beiden, ihr absolut sinnlos erscheinenden Möglichkeiten. Dann denkt sie sich hinein in halbherzige Blowjobs und in lustunterdrücktes Herumgefingere, schnappt fiebrig nach Kindheitserinnerungen und wiederholt: „Nur ein Witz! Nur ein Witz!“ Starr schweigend und bleiern bleibt sie stehen. Sie ist am Weg vom Arbeitsamt ins Eigenheim. Dort wird sie möglicherweise wohl, aber wohl eher übel Nahrung zu sich nehmen, um weiterhin so vor sich hin zu überleben. So weit ihre grobe Hirnplanung. Das Bauchgefühl mit ihr meint es gar gut. Es gibt ihr das Empfinden, ihre Kindheitsgefühle auch im Schein der Erwachsenengegenwart ausleben zu können. „Gut!“, denkt sie sich und entfernt sich weiter in Richtung heim. Dass ihr die Gegenspieler auf der Straße schon seit geraumer Zeit ausweichen, bemerkt sie schon lange nicht mehr bewusst. Und wenn, dann denkt sie sich „So ist es gut”. Das Meiste für sie ist gewiss nicht gut verlaufen aber ihr gefällt die Vorstellung und die Dauer ihrer Trauerpower. Wenn sie trinkt, nimmt sie immer ihren letzten Schluck. Und sie trinkt oft. Oft flüchtet sie und denkt sich, dass die Welt ein Moment sein könnte und sucht den gewissen gegenwärtigen Rausch. Ihr überdimensional dicker und stets nach Rauch riechender Rauledermantel gibt ihr das Gefühl, sich und ihre Gedanken verstecken zu können. Es ist ihr Deckmantel. Ihr Alibi. Unter dem Mantel ein Überlebensinstinkt. „Jeder Moment kann tödlich enden. Wenn die Welt ein Moment sei, dann sei auch das Ende stets in der Nähe. Somit sind wir alle von Anfang an komplett im Eigenarsch“, denkt sie sich und fängt an in sich rein zu fluchen, nicht nur weil es zu regnen beginnt. Sie flüchtet weiter und weiter. Ein Autofahrer hupt dröhnend in ihre Richtung. Die Ampel scheint auf Rot zu sein, doch Lotte zeigt keinerlei Reaktion auf die schimpfende “Person” und realisiert auch nicht, dass der Regen mittlerweile zu Hagel wird. In ihrem Kopf spukt es. Sie stirbt und gedeiht zugleich. Ihre Gründe werden durch sie vom Sinn befreit. Eine Wolke aus Granit befördert Lotte in ein Meer aus Strom. „Mehr war gar nicht!”, denkt sie sich und macht sich keine Mühe. Mühelos und heiter, kann sie die erste Strophe von Napalm Death´s „Human Garbage“ mitträllern. „Paid to obey. Forced to be silent. Human garbage to be destroyed. Submit to darkness. Forced to conform. Human garbage to be destroyed.“ Durch den Wind mit ihrer Eigenkälte, ist sie versteinert im Heim angekommen. Da sitzt sie nun. Alles ist kalt und nichts ist von Belangen. Lotte denkt sich ein Streichholzgeräusch herbei. Ein Leben einer Ausrede gleich. Sie schaut auf ihre schweren Stiefel und denkt mit Überzeugung: „Die Welt ist ein einziger ernstgemeinter Witz.“
© Moritz Rauter 2023-05-10