(1) Ein Schuss vor den Bug

Geri Hehenberger

von Geri Hehenberger

Story
Österreich 2023

„Wie viel es wohl sind?“, fragte er sich. 24 Jahre nach seinem ersten Auftrag hatte Luis Eder abermals eine aktuelle Zielperson im Visier. Viele waren es im Laufe der Jahre. Meist zwielichtige Gestalten, die sich mit der falschen, genauso zwielichtigen Gestalt angelegt hatten. Aber eine Zahl vermochte er nicht zu sagen. Das Denken fiel Luis in dem Moment generell schwer, da der Regen unerbittlich auf ihn niederprasselte. Wie immer hatte er sein Ziel akribisch beobachtet und einen detaillierten Plan zurechtgelegt, wann, wo und wie er seinen Auftrag ausführen würde. Aber das Wetter kann selbst der berüchtigtste Assassine nicht beeinflussen. Grantig nahm Luis die Nässe hin und versuchte sich zu konzentrieren. Er wischte mehrfach am Visier herum. „Verfluchtes Wetter. Verfluchter Hafen. Verdammte Kopfschmerzen und gottverdammter Slimansky!“, dachte er.

Luis hatte den Auftrag von Viktor Slimansky erhalten, eine Art Stammkunde und einer der scheußlichsten Figuren im Verbrechenszirkus. „Immer dieser Scheißkerl!“, meinte Luis zerknirscht. „Den braucht die Welt so viel wie ich Hämorriden!“ Auch derjenige, den Luis gerade beobachtete, hatte wohl diese Meinung. Metin war ein alter Gefährte von Viktor und nach der strapazierenden Zeit unter seiner Tyrannei hat er unerlaubt ein Stück von Viktors finanziellem Kuchen genommen. Keine gute Idee, wenn man alt werden möchte. Metin arbeitete früher als Fassadenstreicher und kam so gerade über die Runden. Geld war für ihn daher wichtig, um dieser Armut zu entfliehen. Der einen Regel, Leute wie Viktor zu beklauen, hätte er sich jedoch nicht widersetzen sollen. In gewohnter Art wurde Luis beauftragt, sich der Sache anzunehmen. Foto und Name. Mehr Informationen erhielt er nie – und mehr war auch nie nötig. Schriftliches verbrannte Luis ohnehin immer. Nach Tagen der Observierung wusste er, dass sich im Hafen die beste Chance bot. Es störte nur der Regen und der lästige Kopfschmerz. Die dadurch trübe Sicht auf Metin erschwerte das ganze Vorhaben deutlich. Es würde sich nur ein kurzes Zeitfenster bieten, um alles zu erledigen.

Zur Entspannung gönnte sich Luis eine Zigarette. „Rasch noch Tschick anzünden und dann packen wir den Burschen!“, motivierend entfachte er den Sargnagel mit Streichhölzern seines Stammlokals und legte zum finalen Schuss an. Ironischerweise nahm auch Metin eine kurze Rauchpause außerhalb des Hafengebäudes und so hatte Luis nun freie Sicht auf ihn. Just in dem Moment, als Luis abdrückte, fuhr ein bohrender Stich durch seinen Kopf. „Aargh!“, stieß er hervor, gefolgt von einem „Scheißdreck!“ als er seinen Fehlschuss bemerkte. Er hatte den Bug eines Schiffes getroffen und Metin weit verfehlt. Dieser merkte von dem Wirbel nichts und paffte weiter. Sein Paffen sollte ein jähes Ende finden, da Luis Ernst machte. Ein Wimpernschlag später sackte der Ganove in sich zusammen und Luis konnte endlich Feierabend machen.

Unzufrieden packte er zusammen, denn er wusste, dass er Fehler machte. Einen Kontakt hatte er bereits seit langem. Er kramte in seinen Taschen und zog eine Karte hervor. „Dr. Ilse Römer – Psychotherapeutin“ stand darauf. Luis seufzte entnervt, da er wusste, was es gespielt hatte. Unglücklich wählte er die Nummer. Als er die fröhlich optimistisch klingende Stimme der Telefonansage vernahm, kamen die Kopfschmerzen zurück.

© Geri Hehenberger 2023-05-21

Genres
Romane & Erzählungen, Humor& Satire
Stimmung
Abenteuerlich, Dunkel, Emotional, Komisch, Angespannt
Hashtags