10.000 Jahre vor unserer Zeit.
Angst. Man konnte ihre Angst riechen. Sie lag in der Luft. Sie hing wie eine Wolke über der Schar, die sich langsam vorwärts bewegte. Im Gänsemarsch, schlangengleich, dicht hintereinander, fast auf Tuchfühlung, tasteten sie sich durch die Dunkelheit, sahen sich nicht, spürten nur den Atem des Hintermannes im Nacken. Vorne, der erste in der Reihe, der Schamane, trug einen schwach glimmenden Zweig, der bei einem seltenen Luftzug kurz aufflammte, um dann wieder nur zu glimmen. Zu wenig Licht, um etwas zu erkennen. Und schmal, der Weg war so eng, dass ihre Schultern die Wände streiften, die manchmal noch enger zusammenrückten, so dass es nur seitwärts weiterging. Oder die tief hängende Decke zwang sie, den Kopf einzuziehen, nur gebückt oder gar in der Hocke voranzukommen. Und es war warm, so verdammt warm, und es wurde immer wärmer, je länger sie liefen, trieb die Schweißperlen in die Augen, ließ sie auf der Haut brennen. … … So ging das schon seit Stunden, und sie waren noch lange nicht am Ziel. Es würde Tage, vielleicht Wochen dauern, bis sie den Ort erreichen würden, den der Schamane ausgesucht hatte, hoch oben in der Kälte, am eisigen Meer, einen Ort, der unwirtlicher nicht sein konnte, der ihnen aber Hoffnung versprach, sicher zu sein vor den dunklen Mördern aus dem Süden, vor den Mördern, die sie auf diesem Weg zwangen, um Mord und Totschlag, Versklavung und Vergewaltigung zu entgehen. Sie vertrauten dem Schamanen, der den Flug der Vögel lesen konnte und den Weg mehr ahnte als wusste.
Ektor war ein friedfertiger Mensch, und doch hatte er kämpfen wollen, um zu rächen, was diese „Dunklen“ ihnen angetan hatten, um die Toten zu sühnen, um seinen Stamm zu verteidigen, auch wenn sie dieser Übermacht wenig entgegenzusetzen hatten. Doch der Schamane hatte ihnen davon abgeraten. Sie sollten überleben und ihren Stamm retten. Aber nicht hier. Sie mussten fliehen, ihre Chance, ihre einzige Hoffnung, den Mördern zu entkommen.
Zuvor mussten sie den Geistern der Unterwelt ein Opfer darbringen, um von den Göttern sicher geleitet zu werden. Schweren Herzens übergab er dem Schamanen sein neugeborenes Kind. Seine Frau, die Mutter, war von den Südländern vergewaltigt und ermordet worden. Wie hätte er, der Krieger, das Kind allein großziehen können? So diente das Opferkind dazu, Sicherheit für den Stamm zu erflehen. Noch nach Generationen würde man sich an das Kind erinnern, es ehren und seinen Namen in Liedern besingen. Das machte sie schon jetzt stolz. Noch waren sie nicht an dem Ort angelangt, den der Schamane für geeignet hielt, den Göttern das Opfer darzubringen, wo sie das kleine Bündel ablegen konnten, um unter dem Schutz der Götter weiter in die Kälte zu ziehen.
Dafür wuchs die Angst von Schritt zu Schritt. Verlangsamte sogar ihre Schritte, manchmal bis zum Stillstand. Bis der Vordermann wieder loslief, langsam und zögerlich, fast lauernd, jeden Schritt abwägend. Woher kannte der Schamane, der sie unablässig antrieb, den Weg? Oder wollte er sie alle opfern, wie das kleine Bündel in seinen Händen? Sie alle, nur um selbst zu überleben?
Doch noch war das Tor zu den Unterweltlern nicht in Sicht, noch blieb es verborgen.
© Heinz-Dieter Brandt 2024-01-05