von Katja Senger
Es war keine unheilvolle Nacht. Es handelte sich nicht um eine heruntergekommene Gegend mit unheimlicher Atmosphäre. Es wehte auch kein Wind und nicht ein einziger Tropfen fiel vom Himmel. Stattdessen schien die Sonne auf eine Nachbarschaft, die man zwar nicht als reich bezeichnen würde, deren Bewohnern es in der Regel aber finanziell an nichts mangelte.
Die Sonne schien – und das zum ersten Mal nach Wochen voller Regen und grauem Himmel. Nur hier und da waren noch kleine Pfützen zu sehen. Diese reflektierten das Licht, sodass der Fußweg mit kleinen Leuchtpunkten gespickt war.
Sonntägliche Spaziergänger traten leichten Schrittes über sie hinweg. Für sie sah die Welt wieder ein Stückchen besser aus. Bunter. Fröhlicher.
An einem solchen Tag stand das Mädchen, das fast schon kein Mädchen mehr war, auf dem Flachdach eines Mehrfamilienhauses und betrachtete die Fußgänger und vereinzelte Fahrrad- und Autofahrer unter ihr.
Nein, eigentlich betrachtete sie sie nicht; ihr Blick lag nicht wirklich auf ihnen, er ging vielmehr durch sie hindurch und landete auf etwas, das, wie es schien, wohl nur sie sehen konnte.
Ja und trotz ihrer auffällig roten Haare fiel auch sie niemandem auf. Denn keiner blickte hoch. Keiner blieb stehen. So wunderten sie sich auch nicht, was sie dort oben, so nah am Rand des Dachs, an einem so schönen Tag machte.
Doch selbst wenn irgendjemand von ihr Notiz genommen hätte, hätte die Person wirklich nach den Gründen gefragt? Überlegt, was ihr gerade durch den Kopf ging?
Oder wäre sie einfach aus Sensationslust stehen geblieben, um später im Mittelpunkt der Gespräche beim Kaffee oder Bier mit den Nachbarn zu stehen? Oder hätte sie nach oben gesehen und sich einfach nichts weiter dabei gedacht?
Ein Gesprächsthema werden sie beim nächsten Stammtisch auf jeden Fall haben.
Denn an diesem sonnigen Morgen, in dieser ruhigen, wohlsituierten Wohngegend, blickte das Mädchen in die Tiefe und machte einen Schritt ins Leere.
© Katja Senger 2021-05-18